Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
dir helfen.«
Kincaid drehte sie zu sich um. »Nein, Gemma. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich will nicht, daß du meinetwegen deinen Job riskierst.«
»Es ist nicht nur deinetwegen. Ich tue das für Vic. Ich bin schon mittendrin, es gibt also kein Zurück. Außerdem ...« Sie lächelte und legte den Handrücken gegen die Stirn. »... habe ich Grippe. Ich bin die nächsten Tage arbeitsunfähig.«
»Gemma ...«
»Was oder wer kann uns davon abhalten, mit Leuten zu reden? Gestern war ich bei Morgan Ashby und seiner Frau ...«
»Du warst wo? Der Mann ist ein Verrückter! Bist du vollkommen ...« Seine Miene erstarrte. Sein Blick war über ihre Schulter gerichtet, und sie fragte sich, was oder wer sie vor seiner Standpauke gerettet hatte.
»Großer Gott!« stöhnte er. »Da ist meine Mutter.«
Gemma starrte ihn verblüfft an. »Wie bitte?«
»Ich wollte es dir sagen ... Ich hatte sie angerufen. Sie wollte kommen, falls sie sich freimachen kann.«
»Aus Cheshire?« krächzte Gemma. »Aber das ist eine halbe Weltreise.« Sie wandte sich um, sah durch das Tor und suchte unter den Leuten, die sich vor der Kirche zu sammeln begannen, nach einem Gesicht mit vertrauten Zügen.
»Sie hat Vic gemocht«, erklärte Kincaid. »Komm! Ich stell dich vor. Und über die andere Sache reden wir später.«
Nachdem Kincaids Mutter ihren Sohn umarmt hatte, hielt sie Gemma lächelnd die Hand hin. »Ich bin Rosemary.«
Die Ähnlichkeit war vorhanden, dachte Gemma. Es waren das kastanienbraune Haar, die Augen und der Mund.
»Dein Vater wollte auch mitkommen«, fuhr Rosemary, an Kincaid gewandt, fort. »Aber Liza hat heute ihren freien Tag, und einer muß im Geschäft bleiben.« Sie sah zu ihm auf und berührte seine Wange kurz mit den Fingerkuppen. »Es tut mir so leid, mein Liebling.«
Kincaid lächelte und ergriff ihre Hand. »Die Kirche füllt sich schon. Gehen wir lieber rein.«
Gemma hielt absichtlich Abstand, um Mutter und Sohn einige Minuten allein zu lassen, aber Kincaid wartete, bis sie die beiden eingeholt hatte, und nahm ihren Arm. »Setzen wir uns in eine der hinteren Reihen«, murmelte er, und Gemma sah, wie er die Trauergäste beobachtete, die hereinkamen, sich jedes Gesicht einprägte.
Die Kirche hatte die nächtliche Kälte gespeichert, und Gemma fühlte die Wärme seines Körpers, als er sich über sie beugte und seiner Mutter zuflüsterte: »Sieht so aus, als habe Pfarrer Denny einiges mit uns vor.« Er wedelte mit dem reichhaltigen Programm des anstehenden Gottesdienstes, das auf jedem Sitzplatz lag. »Machen wir uns auf einiges gefaßt.«
Gemma empfand den routinemäßigen Ablauf des Trauergottesdienstes als tröstlich. Sie ließ Reden und Lieder über sich ergehen, während sie die Gesichter der Umgebung betrachtete und sich fragte, wer diese Leute sein mochten und was sie wohl Vic bedeutet hatten. Und was Vic ihnen bedeutet hatte, dachte sie mit einem verstohlenen Blick auf Kincaids verschlossene Miene. Nichts an ihm verriet dem unaufmerksamen Betrachter seine Emotionen.
Nach dem Gottesdienst erhob sich die Trauergemeinde und trat schweigend ins Sonnenlicht hinaus.
Gemma, Kincaid und Kincaids Mutter gehörten zu den ersten, die durch das Portal ins Freie gelangten. Kincaid dankte dem Pfarrer und führte die beiden Frauen dann beiseite, wo sie den zögerlichen Strom der Trauernden aus der Kirche beobachten konnten. »Die meisten scheinen nicht recht zu wissen, was sie jetzt anfangen sollen«, bemerkte Kincaid. »Es ist kein Empfang angesagt, aber sie scheinen sich auch nicht einfach so davonmachen zu wollen.«
»Das ist alles sehr seltsam.« Rosemary schüttelte den Kopf. »Ich bin überrascht, daß ihre Eltern so gar nichts organisiert haben. Ich hätte nicht erwartet, daß Eugenia je eine Gelegenheit auslassen würde, vor Publikum ihre gesellschaftliche >Korrektheit< unter Beweis zu stellen.« Sie zog eine Grimasse. »Verzeihung, das war nicht nett von mir.«
Kincaid lächelte. »Du hast doch recht. Ich hab mir dasselbe gedacht.«
»Jedenfalls muß ich Eugenia und Bob erst mal kondolieren«, seufzte Rosemary wenig begeistert.
»Ich möchte gern mit Kit reden ...«, begann Kincaid und sah dann lächelnd zu einer jungen Frau hinüber, die durch das Portal auf sie zukam. Gemma schätzte sie auf Vics Alter. Sie hatte kinnlanges braunes Haar und ein sympathisches Gesicht. Sie strahlte Kincaid an, als
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