Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
habe sie einen lange vermißten Bruder wiedergefunden.
»Gott sei Dank! Das haben wir hinter uns«, seufzte sie. Aus der Nähe sah Gemma die verschmierte Wimperntusche und die zuckenden Mundwinkel.
Zu Gemmas Überraschung nahm Kincaid ihre Hand und tätschelte sie. »Das ist Laura Miller, die Sekretärin von Vics Fakultät«, stellte Kincaid sie vor. »Meine Mutter, Rosemary Kincaid, und Gemma James.«
Gemma war Rosemary ebenso schlicht vorgestellt worden, und ohne den Panzer ihres offiziellen Status als Kriminalbeamtin fühlte sie sich seltsam unsicher.
»Entschuldigen Sie ... ich bin ziemlich durcheinander.«
Laura tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Aber Eugenia Potts hat mich gerade zur Schnecke gemacht. Ich bin perplex. Sie erlaubt nicht, daß ich mit Kit rede. Ich wollte ihm nur sagen, daß seine Freunde aus der Schule nach ihm fragen. Was ist mit dieser Frau los?«
Kincaid wechselte einen Blick mit seiner Mutter. »Ich weiß nicht. Selbst für Eugenia ist das Benehmen ungewöhnlich. Wo sind die beiden überhaupt?«
»Noch in der Kirche. Iris hat sich nicht davon abbringen lassen, ihnen persönlich ihr Beileid auszusprechen. Hoffentlich stößt sie auf mehr Entgegenkommen als ich.« Laura runzelte die Stirn. »Iris kann im Augenblick wirklich nicht noch mehr Aufregung gebrauchen. So schlimm wie ...« Sie verstummte, starrte an Gemma vorbei. »Seht mal! Da ist sie ja.«
Gemma drehte sich um. Eine korpulente ältere Frau kam mit energischen Schritten auf sie zu. Im Schlepptau hatte sie eine kleinere, aufgeregt wirkende Dame.
»Wer ist die Begleiterin?« fragte Kincaid.
»Das ist Enid, Iris’ ... hm, Freundin«, antwortete Laura leise und hastig, dann hatten die beiden Frauen die Gruppe erreicht, und man stellte sich gegenseitig vor.
Iris Winslow machte, wie Laura, kein Hehl aus ihrer Freude, Kincaid zu sehen. »Ich bin wirklich froh, daß Sie gekommen sind«, seufzte sie und fügte mit einem Seitenblick auf Enid hinzu: »Ich fand den Trauergottesdienst sehr angemessen. Egal, was andere sagen. Ich glaube, Vic wäre einverstanden gewesen. Und das ist doch die Hauptsache, oder? Sie ist nie fürs Pompöse gewesen.«
Enid kräuselte die Lippen und murmelte Zustimmendes.
Kincaid stöhnte unterdrückt. »War Eugenia Potts vielleicht mit dem armen Pfarrer Denny nicht zufrieden? Oder was?«
»Leider ist das der Fall«, erwiderte der großgewachsene, hagere Mann im Anzug eines Geistlichen, der sich in diesem Moment zu ihnen gesellte. »Aber ich schätze, er kann damit umgehen.« Er lächelte, und Gemma fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Im nächsten Moment erfuhr sie, daß er Adam Lamb war. Iris begrüßte ihn überschwenglich.
Während Gemma der Unterhaltung nur bruchstückhaft folgte, ließ sie ihre Blicke über die Runde schweifen und versuchte die Anwesenden in die richtige Beziehung zu Vic zu setzen. Iris Winslow war offenbar ihre Vorgesetzte, und Darcy Ellot, der große Mann in der malvenfarbenen Weste, der inzwischen ebenfalls zu ihrer Gruppe gestoßen war, einer ihrer Kollegen. Was Adam betraf, war sie nicht ganz sicher. Jedenfalls schien er Iris und Darcy zu kennen. Dann hörte sie, wie Kincaid leise zu ihm sagte: »Wie hält sich Nathan?« Der Name wenigstens sagte ihr etwas. Nathan hatte Vic das Buch gegeben, in dem sie Lydias unveröffentlichte Gedichte entdeckt hatte. Außerdem wußte sie von Kincaid, daß er als Lydias Nachlaß Verwalter fungierte.
Adam schüttelte unmerklich den Kopf. »War ein schwieriger Tag, fürchte ich. Er redet gerade mit Austin - Pfarrer Denny -, danach bringe ich ihn nach Hause. Da gibt’s kein Pardon.«
War Nathan krank und Adam so etwas wie sein Pfleger? fragte sich Gemma. Aber dann trat auch Nathan Winter in den immer größer werdenden Kreis um Kincaid. Gemma musterte den überraschend gutaussehenden Mann Anfang Fünfzig erstaunt.
»Adam gebärdet sich in letzter Zeit zunehmend wie eine besorgte Gouvernante«, erklärte Nathan, als habe er das Gespräch zwischen Adam und Kincaid gehört. »Dabei geht es mir ganz gut.« Sein Optimismus wirkte aufgesetzt. Und seine glanzlosen Augen und die tiefen Falten an den Mundwinkeln straften ihn Lügen. »Außerdem habe ich nicht die Absicht zu verschwinden, ohne mit Kit gesprochen zu haben«, fügte er hinzu. »Gibt’s was Neues von Ian McClellan?« fragte er Kincaid.
»Nicht die Spur«, erwiderte Kincaid. »Bin gerade heute
Weitere Kostenlose Bücher