Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
morgen im Polizeipräsidium gewesen. Die sind keinen Schritt weiter. Der Mann scheint wie vom Erdboden verschwunden zu sein.«
»Mistkerl«, erklärte Nathan laut und deutlich, und die Unterhaltung um ihn herum verstummte vorübergehend.
Rosemary wandte sich an Darcy Eliot und sagte fröhlich in die gespannte Stille hinein: »Ich liebe Ihre Bücher, Mr. Eliot. Und ich verehre Ihre Mutter ... Wie lange ich schon ein Fan von ihr bin, sage ich lieber nicht laut.«
»Sehr freundlich«, bedankte Eliot sich. »Leider läßt mir die Bildungsbürokratie heutzutage kaum Zeit für diesen angenehmen Zeitvertreib. Meine Mutter andererseits scheint mit jedem Jahr produktiver zu werden.«
»Hätten wir doch alle etwas von Margerys Vitalität«, bemerkte Iris. »Ich weiß nicht, wie sie das macht.«
»Sie behauptet, das gelegentliche Glas medizinischen Sherrys sei eine große Hilfe«, erklärte Darcy mit einem Zwinkern.
»Und ich muß sagen, diese Art von Medizin hätten wir heute alle dringend nötig. Ist mir schleierhaft, weshalb ...« Er hielt inne und sah Iris stirnrunzelnd an. »Iris, hast du was?«
Iris war blaß geworden und hatte nach Enids Arm gegriffen, lächelte jedoch tapfer in die Runde. »Nichts, was ein kleiner Schluck aus der untersten Schublade deines Schreibtischs nicht beheben könnte, Darcy. Sind nur die Kopfschmerzen, die mich schon einige Tage plagen.«
»Fühlen Sie sich nicht wohl, Dr. Winslow?« erkundigte sich Adam besorgt. »Nathans Haus liegt gleich oben an der Straße - kommen Sie! Ich koche Ihnen eine Tasse Tee. Nathans Kräuter wirken Wunder. Soviel ich weiß, hat er auch eine Mischung gegen Kopfschmerzen.« Er nahm sie beim Ellbogen und wandte sich Nathan zu. Doch Nathan starrte nur stumm auf das Trio, das gerade durch das Kirchenportal ins Freie getreten war. Die verwelkte Blondine im dunklen Kostüm mit dem schwarzen Strohhut muß Vics Mutter sein, dachte Gemma, und der magere Mann mit dem schütteren Haar an ihrer Seite offenbar ihr Vater. In ihrer Mitte wirkte Kit bleich und elend. Die Ärmel seines marineblauen Blazers waren zu kurz, und die knochigen Handgelenke, die darunter hervorragten, erschütterten Gemmas Mutterherz mehr als alles andere.
Rosemary legte Kincaid kurz die Hand auf den Arm.
»Duncan, ist das Vics Sohn?« fragte sie, und ihre Stimme klang plötzlich rauh.
»Ja«, antwortete Laura, bevor Kincaid etwas sagen konnte. »Das arme Kind ist verdammt schlecht weggekommen, als der liebe Gott die Großeltern verteilt hat.« Ihr Mund war vor Wut ganz verkniffen.
Alle standen wie versteinert, als das Ehepaar Potts Kit in Richtung Auffahrt drängte. »Sie hat tatsächlich die Absicht, ohne ein Wort an uns vorbeizugehen«, bemerkte Rosemary völlig verdattert. »Das ist ja nicht zu fassen!«
Ihre Worte schienen Nathan aus seiner Starre zu reißen. Er machte einen Schritt vorwärts und rief: »Kit, warte!«, und alle anderen liefen wie die Lemminge hinter ihm her.
Vics Vater blieb stehen und drehte sich um. Gemma sah das Mißfallen, das aus der Haltung der Mutter sprach, als sie gezwungen war, ebenfalls stehenzubleiben.
»Hallo, Kit«, sagte Nathan, als sie die drei erreichten. Die anderen verschanzten sich verlegen hinter Nathans breitem Rücken. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie’s dir geht.«
Hinter dem schmalen Schleier ihres Strohhuts war Eugenias Gesicht vom Weinen geschwollen und gerötet. Sie hielt mit zitternder Hand ein Taschentuch an die Lippen und sagte kein Wort.
In der Stille klang Kits Antwort wie ein Schrei der Verzweiflung: »Ich wünschte, ich wäre tot.«
»Christopher!« jammerte Eugenia. »Hast du denn keine Achtung...«
»Eugenia«, fiel Rosemary ihr ruhig ins Wort und trat vor. »Das mit Victoria hat mich sehr getroffen. Es muß schrecklich für dich sein.«
»Du weißt gar nicht, wovon du redest, Rosemary Kincaid. Wenn du dein einziges Kind verloren hättest ...«
»Ich möchte deinen Enkel gern kennenlernen«, fuhr Rosemary fort und unterbrach sie erneut. Sie hielt Kit eine Hand hin. »Hallo, Kit. Ich bin Rosemary. Duncans Mutter. Warte mal ...« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah ihn prüfend an. »Du mußt jetzt - wie alt sein? Zwölf? Dreizehn?«
»Elf«, antwortete Kit mit kurz aufflackerndem Interesse und straffte die Schultern.
»Und was spielst du in der Schule? Rugby? Fußball?«
»Fußball«, gab er mit einem ängstlichen
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