Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Buch aufzunehmen.«
»Ganz sicher nicht«, erwiderte Ralph amüsiert. »Lydia und ich standen in bestem Einvernehmen. Ich hätte ihr nie ins Handwerk gepfuscht.« Er wurde ernst. »Und nach ihrem Tod, als wir uns nicht mehr absprechen konnten, hätte ich das erst recht nicht getan. Ich habe Lydias Manuskript so veröffentlicht, wie ich es von ihr bekommen hatte, und war sehr darauf bedacht, alles genau so zu machen, wie sie es sich gewünscht hätte.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Ich erinnere mich allerdings, daß ich damals gedacht habe, der Reihenfolge der Gedichte ginge eine gewisse Kontinuität ab. Sie erschien mir etwas sprunghaft. Aber nach Lydias Tod habe ich ihre Depressionen dafür verantwortlich gemacht.«
»War das Manuskript denn fortlaufend numeriert?« wollte Gemma wissen.
Ralph schüttelte den Kopf. »Nein. Lydia hatte die Angewohnheit, mit der Reihenfolge der Gedichte bis zum letzten Tag zu spielen, und da sie auf einer Schreibmaschine arbeitete, wäre es ein Heidenaufwand gewesen, die Seiten jedesmal neu durchzunumerieren.«
»Es hätte also jemand unschwer hier und dort eine Seite aus dem Manuskript verschwinden lassen können?« vermutete Kincaid.
»Schon. Vermutlich«, erwiderte Ralph verdutzt. »Aber warum um Himmels willen hätte das jemand tun sollen?«
»Das wissen wir nicht. Wir haben nur Vics Behauptung, daß etwas nicht stimmt.« Kincaid blinzelte, als wolle er die Vision von Vics erregtem Gesicht, als sie die Durchschläge mit den Gedichten vor ihrer Nase herumschwenkte, vor seinem geistigen Auge auslöschen.
»Gewiß war Dr. McClellan eine Expertin, was Lydias Werk betrifft. Aber wenn sie der Meinung war, daß jemand an Lydias Manuskript herumgepfuscht hat, warum hat sie das nicht mit mir besprochen?« wollte Ralph wissen. Der Mann hat ein intelligentes Gesicht, dachte Kincaid. Mit wachen dunklen Augen und einer hohen Stirn. Er war nicht zu unterschätzen.
»Sie hat das erst wenige Tage vor ihrem Tod entdeckt«, warf Gemma ein. »Die Zeit lief ihr einfach davon.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer Zugang zu Lydias Manuskript gehabt haben könnte, bevor Sie selbst es gelesen haben?« fragte Kincaid.
Ralphs Blick schweifte über die zahllosen Bücher und Manuskripte in seinem Arbeitszimmer. Das sprach Bände. »Sie sehen ja, was hier los ist. Ich komme mir wie Sisyphus vor, der alle Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versucht. Meine Assistentin kann nur das Schlimmste verhindern. Hier kommen viele Leute durch, aber wir hatten nie Grund, auf Sicherheitsvorkehrungen zu achten.« Er warf unauffällig einen Blick auf die Uhr. »Allerdings ist es möglich, daß Lydia aus irgendeinem Grund selbst beschlossen hat, Gedichte aus der Sammlung herauszunehmen. Aber was sollte das mit Dr. McClellans Tod zu tun haben? Das alles kommt mir doch ziemlich weit hergeholt vor.«
»Es könnte nicht nur etwas mit Dr. McClellans Tod, sondern auch mit Lydias Tod zu tun haben.« Kincaid, der Ralph aufmerksam beobachtete, erkannte, wie schnell der Mann die Andeutung verarbeitete.
»Lydia? Wie meinen Sie das?« Ralph klang ehrlich überrascht. Er sah verwirrt von einem zum anderen.
»Wir halten es für möglich, daß Lydia Brooke ermordet worden ist«, eröffnete Kincaid ihm.
Ralph starrte ihn an. »Ermordet? Aber ... das ist unmöglich. Lydia war eine mäßig erfolgreiche Lyrikerin mittleren Alters, die bekanntermaßen seit Jahren an Depressionen gelitten hatte. Weshalb sollte jemand sie ermordet haben?«
»Wir hatten eigentlich gehofft, Sie könnten uns da einen Hinweis geben«, gestand Gemma mit einem Lächeln. »Wir dachten, daß Sie vielleicht eine objektivere Einschätzung von ihr haben. Immerhin hatten Sie ein reines Arbeitsverhältnis mit ihr. Und sie kannten sich seit langem.«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte Ralph bedächtig. »Lydia gehörte zu den ersten Autoren, die ich für den Verlag gewinnen konnte. Wir sind sozusagen zusammen groß geworden. Anfangs waren wir - beide - schrecklich naiv, was das Verlagswesen anging. Aber Lydia hat mir meine Fehler verziehen. Ich mochte sie sehr.«
Ralph betrachtete nachdenklich das Brillengestell in seiner Hand und sah dann auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen. Je älter Lydia wurde, desto eigenwilliger wurde sie. Und gelegentlich wurde sie auch ein wenig rührselig. Aber seit wann bringt man deshalb einen Menschen um?
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