Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
es schon wieder ein unvollendetes Buch - das von Victoria McClellan. Ich weiß, mit welcher Hingabe sie an diesem Projekt gearbeitet hat. Es wäre eine Schande, wenn alles umsonst gewesen sein sollte.«
»Margery, daran solltest du nicht einmal denken«, warf Ralph entsetzt ein. »Du hast schon genug zu tun. Und der Arzt hat dich gewarnt ...«
»Als wenn der davon eine Ahnung hätte, der alte Knacker«, entgegnete Margery geringschätzig. »Wenn ich auf ihn hören würde, könnte ich mich einbalsamieren lassen.« Sie lächelte Ralph verzeihend zu. »Ich weiß Deine Sorge zu schätzen, mein Lieber. Aber du weißt, daß die Arbeit mich am Leben hält. Und wenn ich so enden sollte wie Henry, dann habe ich nichts dagegen.«
»Dame Margery«, meldete sich Kincaid zu Wort. »Ich schlage vor, Sie lassen dieses besondere Projekt noch etwas ruhen. Ich bin auf wesentlich konkretere Art um Ihre Gesundheit besorgt - an Vic McClellans Manuskript zu arbeiten könnte sich als lebensgefährlich erweisen.«
Cambridge 27. März 1969
Liebste Mami,
Deine Ingwerplätzchen sind ein Gedicht, und ich knabbere sie, wenn ich an normales Essen nicht einmal denken kann. Ich habe die Büchse in die Mitte des Küchentischs gestellt, so daß ich sie zum Tee essen kann, während ich die Buchfinken im Garten beobachte.
Es war ein langer Winter. Aber ich glaube, ich habe mich jetzt mit allem abgefunden. Morgan hat eine Geliebte. Ich habe sie zusammen auf dem Marktplatz gesehen. Er war ganz bleich vor Elend, und ich bin sicher, er glaubt, daß ich ihm nur Schlechtes wünsche, aber das ist nicht wahr. Dazu fühle ich mich zu hohl, leicht und freischwebend wie eine leere Samenkapsel im Wind, und erst wenn der Scheidungsspruch ergeht, kann ich wieder ich selbst sein. Das Schreiben geht zäh voran, wenn überhaupt, und das fehlt mir mehr als alles andere.
Alte Freunde umsorgen mich - Adam mit nahrhaften Suppen und geistlichem Trost, und ich bin dankbar genug für seine Gesellschaft, um die unterschwelligen Hoffnungen zu ignorieren. Niemand ist es wert, das durchzumachen, was ich die letzten Monate, ja Jahre, durchgemacht habe.
Immer wieder taucht Darcy zum Cocktail auf und verbreitet akademischen Klatsch, und seine scharfe Zunge ist leichter zu ertragen als Mitleid. Nathan Winter und seine Frau Jean haben gerade ihr erstes Baby bekommen - ein Mädchen namens Allison, und ich soll Patin werden. Ich habe mich aufgerafft und das Taufgeschenk erworben, einen Silberbecher mit ihrem Namen und Geburtsdatum, und habe mir später ein Abendessen bei Browns genehmigt.
Daphne ist mein Fels in der Brandung, aber sie mußte sich schließlich wegen der Lehrerstelle in Bedford entscheiden, und ich konnte sie nur dazu ermutigen. Bedford ist eine angesehene Mädchenschule und nur eine Stunde Fahrt entfernt, so daß wir uns weiter an den Wochenenden sehen können. Ein tröstlicher Gedanke.
Alles Liebe, Lydia
Kincaid bat Gemma, Laura Miller anzurufen, um sich zu erkundigen, wo sie Darcy Eliot an seinen Wochenenden finden konnten. Sie schickte sie zum All Saints’ College. »Er bewohnt dort seit einer Ewigkeit dieselben Räumlichkeiten«, klärte Laura sie auf. »Ich habe die männlichen Professoren immer um die Möglichkeit beneidet, ihr Domizil im College aufzuschlagen. Sie werden dort verköstigt, bedient und hängen am collegeeigenen Weinvorrat wie am Tropf. Darcy hat aus diesem Grund nie geheiratet - seiner Ansicht nach hätte er sich nur verschlechtern können«, fügte sie lachend hinzu und legte auf.
Gemma und Kincaid betraten die Portiersloge und wurden zur Rückseite des Collegegebäudes dirigiert. Gemma ging langsam. Sie war sich Kincaids Ungeduld wohl bewußt, ignorierte sie jedoch. Sie warfeinen Blick auf den Faltplan, den sie Vom Portier bekommen hatte, und sah dann zu den vier Gebäudetrakten hinüber, die den Hof umschlossen. »Das ist der Haupthof«, sagte sie. »Und hier links muß der Durchgang zur Kapelle sein. Wir gehen hier durch« - sie deutete auf das vor ihnen liegende Gebäude - »und kommen auf der anderen Seite wieder raus.«
Als sie dort angelangt waren, blieb sie stehen und studierte erneut den Plan.
»Gemma ...« kam es ungeduldig von Kincaid.
»Schon gut.« Sie führte ihn über den Rasen und an den Gebäuden entlang, die sich zu ihrer Rechten halbmondförmig an den öffentlichen Park anschlossen und an der Mauer über der Cam endeten.
Darcy Eliots Aufgang erwies sich
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