Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Absicht und Planung. Dazu ist Morgan nicht fähig.« Nachdenklicher fügte sie hinzu: »Mich interessiert, ob Lydia diese Szenen wirklich absichtlich provoziert hat oder ob das nur seine Sichtweise - seine Ausrede für sein Verhalten ist.«
»Das erfahren wir nie. Sowieso ist jede Diskussion sinnlos. Wir haben nichts Belastendes gegen Morgan Ashby in der Hand«, seufzte Kincaid. »Aber wenn du dir einer Sache sicher bist, gehst du mit dem Kopf durch die Wand ... Muhammed Ah.«
Gemma lächelte in der Pose der Siegerin. »Dann sollten wir jetzt nachprüfen, was Morgan uns erzählt hat, oder? Daphne erreichen wir erst Montag. Aber wir könnten es bei Darcy Eliot und Nathan Winter versuchen.« Sie trank ihre Tasse Tee aus.
»Also gut«, pflichtete er bei. »Aber zuerst möchte ich mit Ralph Peregrine reden. Die verschwundenen Gedichte liegen mir im Magen.«
Nachdem sie gezahlt hatten, stiegen sie die steile Wendeltreppe ins Parterre empor und gingen durch ein Ladengeschäft mit schöner Tischwäsche aus Leinen und Spitzen. Kincaid sah, wie Gemmas Hand sich nach einer besonders schönen Handarbeit ausstreckte, die neben der Tür ausgebreitet lag, und zurückzuckte, ohne sie zu berühren, bevor sie ihm auf die Straße hinaus folgte.
In der halben Stunde, die sie in der Teestube im Tiefparterre verbracht hatten, war das Wetter umgeschlagen. Der Himmel war wolkenverhangen, und die kühle Luft roch nach Regen.
Sie passierten einige Feinkostgeschäfte und erreichten wenige Minuten später das unauffällige Bürohaus an der Ecke zur Sidney Street. Ein Messingschild trug den Namenszug des Verlags.
Eine Klingel gab es nicht. Die Tür war offen. Sie betraten das Foyer. Eine Treppe führte in den ersten Stock und zu einer Milchglastür. »Bist du sicher, daß jemand da ist?« fragte Gemma. »Es ist still wie in einer Kirche. Und es ist Samstag.«
»Peregrine hat gesagt, daß er arbeitet«, versicherte Kincaid, als sie die Stufen hinaufstiegen. Er öffnete die Glastür im ersten Stock und ließ Gemma den Vortritt. Dahinter lag eine Art Vorzimmer mit schäbigem Sofa, Couchtisch, bunt gefüllten Bücherregalen und Stapeln von Manuskripten. Die Tür zu einem angrenzenden Büro war geschlossen. Kincaid hörte eine Männerstimme. Ralph Peregrine schien zu telefonieren.
»Die Exklusivität, die man mit dem Peregrine-Verlag verbindet, sucht man hier aber vergebens«, bemerkte Kincaid und fuhr mit dem Daumen über einen staubigen Aktenstapel. »Was meinst du, sind das Manuskripte?«
»Organisationsgenies scheinen hier nicht gerade am Werk zu sein.« Gemma rümpfte die Nase. »Ist ein Wunder, daß sie es schaffen, überhaupt Bücher zu ...«
»Hallo! Ich habe doch Stimmen gehört.« Die Seitentür hatte sich lautlos geöffnet. Ein hagerer, dunkelhaariger Mann in Cordhose und kirschrotem Pullover stand lächelnd auf der Schwelle. »Sie müssen Mr. Kincaid sein. Ich bin Ralph Peregrine.«
Nachdem Kincaid Gemma vorgestellt hatte, die unwillkürlich rot geworden war, führte Peregrine sie in sein Büro. »Hier ist es gemütlicher«, erklärte er und bot ihnen zwei antike Stühle an, die aussahen, als habe man sie aus einem Speisezimmer entwendet. Peregrines Büro war schon eine Nuance eleganter. Der Schreibtisch, auf dem sich gefährlich instabile Papier- und Bücherstapel türmten, sah wertvoll aus, und der Teppich unter ihren Füßen hatte die federnde Qualität eines echten Persers. Links vom Schreibtisch stand ein Computer modernster Machart mit Drucker auf einem Computertisch. Kincaid gefiel die Vorstellung, daß das Endprodukt dieser neuesten Technologie noch immer gedruckte Worte auf gebundenem Papier waren.
Peregrine setzte sich halb auf die Schreibtischkante und sah sie an, den Rücken dem großen Fenster hinter seinem Schreibtisch zugewandt. Er verschränkte entspannt die Arme vor der Brust und fragte: »Also, was kann ich für Sie tun?«
Es ist ein Kriminalfall, dachte Kincaid. Zitiere einfach die Fakten und laß dir den Blick nicht von den Gedanken an Vic verstellen. Er räusperte sich. »Wie ich schon am Telefon gesagt habe, geht es um Lydia Brookes letzten Gedichtband. Ich meine den, der posthum veröffentlicht worden ist. Vic McClellan hat bei Lydias Nachlaß Gedichte entdeckt, die ihrer Meinung nach in diesem Band hätten enthalten sein müssen. Deshalb stellt sich die Frage, ob es vielleicht Ihre redaktionelle Entscheidung war, gewisse Gedichte nicht in dieses
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