Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
der genug gelitten hat«, fuhr Kincaid auf. »Ihr solltet froh sein, daß er das Geld genommen hat. Dann hat er sich vermutlich nichts angetan.«
»Halt doch endlich deinen Mund, Eugenia!« brüllte Potts am anderen Ende. In die folgende Stille hinein sagte er zögernd: »Du glaubst doch nicht ...«
Kincaid bereute seinen unbeherrschten Ausbruch bereits. »Ich wollte dir keine Angst machen, Bob. Mit dem Jungen ist bestimmt alles in Ordnung. Aber er steht unter Schock und ist todunglücklich. Das macht ihn unberechenbar.«
»Was können wir tun?« fragte Potts, der hörbar um Beherrschung rang.
Kincaid überlegte. Die örtliche Polizei war kaum bereit, die Suche nach einem Jungen aufzunehmen, der erst seit zwei Stunden vermißt wurde. Trotzdem hatte er vor, sie wenigstens zu bitten, die Krankenhäuser zu überprüfen. Dann mußte er eine sinnvolle Beschäftigung für Bob Potts finden. Alles war besser als das Warten. »Habt ihr ein neueres Foto von Kit?« wollte er wissen.
»Er hat uns Weihnachten ein gerahmtes Schulfoto geschenkt«, antwortete Potts verwirrt. »Aber was ...?«
»Klappere damit sämtliche Bus- und Bahnstationen ab. Kit hatte genug Geld für eine Fahrkarte. Frag die Leute an den Fahrkartenschaltern, ob sie ihn gesehen haben. An einen Jungen mit einem Hund dürften sie sich erinnern. Ich rufe die Ortspolizei an und bitte sie, die Augen offenzuhalten. Aber vorerst suchen wir lieber selbst.«
»Du hilfst uns?« Potts klang dankbar und überrascht. Kin-caid fragte sich, was er eigentlich erwartet hatte.
»Natürlich helfe ich.« Und gnade ihm Gott, wenn er bei Kit versagte, wie er bei Vic versagt hatte. Er hätte das kommen sehen müssen.
Unter einem stumpfen grauen Himmel erstreckte sich die mittlerweile vertraute Autobahn nach Cambridge wie ein breites Band. Kincaid blieb auf der Überholspur, und die Nadel des Tachometers vibrierte, während er das Letzte aus dem Midget herausholte.
Beim Fahren versuchte er die Bilder zu verdrängen, die ungefragt vor seinem geistigen Auge aufflackerten - Kit verletzt, Kit zerlumpt und verloren wie die heimatlosen Straßenkinder, die er bettelnd vor der U-Bahn-Station Hampstead gesehen hatte. Er fragte sich, ob die zermürbende Angst, die er empfand, ein Teil dessen war, was >Vater sein< bedeutete. Dabei wurde ihm klar, daß er mittlerweile davon ausging, daß Kit sein Sohn war.
Über diese Erkenntnis hinaus jedoch vermochte er nicht zu denken - noch nicht, nicht bis er Kit sicher und wohlbehalten wiedergefunden hatte. Vorerst konzentrierte er sich auf die Gegenwart, auf das Wesentliche. Er hatte nach dem Telefonat mit Bob eine Tasse Tee getrunken, Jeans und Pullover angezogen und dabei telefoniert.
Die Polizei von Reading hatte erwartungsgemäß zurückhaltend reagiert, sich jedoch bereit erklärt, ein paar Nachforschungen anzustellen. Laura Miller hatte nichts von Kit gehört, wollte jedoch sofort anrufen, falls er sich bei ihr oder anderen Freunden melden sollte. Gemma versprach, in ihrer Wohnung abzuwarten, ob er anrief.
Kincaid rieb sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln an seinem Kinn, als er sich der Ausfahrt Grantchester näherte, und überdachte seine Möglichkeiten. Er wußte aus Erfahrung, daß die ersten Stunden bei der Suche nach einem vermißten Kind entscheidend waren. Sollte sich sein Instinkt als falsch erweisen, mußte er aufs Ganze gehen und eine große Suchaktion einleiten.
Kincaid verließ die Autobahn und erreichte schnell die Außenbezirke von Grantchester. Die Straßen waren noch leer. Nur die Rauchsäulen über den Schornsteinen widersprachen dem Eindruck, daß das Dorf in einen Schneewittchenschlaf gesunken war. Er bremste fast auf Fußgängertempo ab, als plötzlich Zweifel in ihm aufkamen. Weshalb vergeudete er wertvolle Zeit, um einem derartig halbgaren Verdacht nachzujagen? Kit konnte es bis hierher kaum geschafft haben, hatte vermutlich nie die Absicht gehabt, nach Grantchester zu kommen. Wahrscheinlich war er mittlerweile längst in London, wurde bereits von den Zuhältern angemacht, die immer und überall auf Ausreißer lauerten, die sich als Strichjungen eigneten.
Trotzdem parkte er den Midget am Straßenrand und nicht in der Kiesauffahrt, wo das Motorengeräusch jeden im Haus gewarnt hätte. Er stieg aus dem Wagen, schloß leise die Tür und betrachtete einen Moment aufmerksam das Haus. Obwohl es erst wenige Tage leer stand, machte es einen verlassenen
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