Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Als der Schatten weiterwanderte, entzündete die Sonne Funken auf der üppigen Mähne ihres rotgoldenen Haars. Sie sah so lebendig aus, daß - wären die Starre der Züge und die Fliegen nicht gewesen - man hätte annehmen können, sie habe sich hier nur zum Schlafen niedergelegt.
Ein erdiger, würziger Duft stieg von der zertrampelten Vegetation zu seinen Füßen auf, der ihn unwillkürlich an Liebende denken ließ, die sich auf einem schattigen Plätzchen am Hang umfangen hielten. »Hat man den zweiten Schuh gefunden?« wollte er wissen.
Der Fotograf schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Die Uniformierten haben eine gründliche Suche gestartet.«
Festlich gekleidet, aber jeder Möglichkeit beraubt, je wieder eine Veranstaltung zu besuchen, schoß es Kincaid durch den Kopf, während er auf ihren leblosen Körper starrte. Er widerstand der Versuchung, die seidige Haarsträhne zurückzustreichen, die sich an ihrer Wange verfangen hatte. »Vielleicht hat sie ihn auf einem Fest beim Tanzen verloren.«
Gemma beobachtete Kincaid, der den Weg zurück entlang der Absperrung kletterte, das Gesicht ausdruckslos wie immer unter diesen Umständen. »Die Tat eines Psychopathen? Oder was meinst du?« fragte sie, als er sie erreicht hatte. Man sagte nicht »Serienkiller«, nicht, wenn auch nur annähernd die Möglichkeit bestand, daß die Presse lange Ohren machte. Trotzdem war es immer der erste Verdacht, wenn eine junge Frau auf diese Weise ermordet wurde.
Mit einem Blick zurück auf die Leute von der Spurensicherung, die wie seltsame weiße Insekten um die Leiche herumkrochen, schüttelte Kincaid den Kopf. »Ich glaube, der Mörder hat sie gekannt. Sieht so aus, als habe jemand ihre Kleidung züchtig arrangiert. Falls sie vergewaltigt worden sein sollte, läßt sich das auf den ersten Blick nicht erkennen. Nach der Obduktion wissen wir mehr.«
»Ich bestelle jetzt den Leichenwagen«, sagte DI Coppin. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Sir«, fügte sie unverhohlen feindselig hinzu.
Kincaid zog leicht die Augenbrauen hoch, ließ sich jedoch auch diesmal nicht provozieren. »Nur zu, Inspector. Je schneller, desto besser ... bei dieser Hitze. Ein Glück, daß die Temperaturen vergangene Nacht gesunken sind.«
Coppin kletterte ungeschickt den Hang hinunter. Ihr enger Kostümrock behinderte sie ganz offensichtlich. Gemma beobachtete sie, bis sie durch das Schwinggatter entschwunden war, und wandte sich dann an Kincaid. »Hör mal ...«
Bevor sie fortfahren konnte, zog Kincaid sie in den Schatten, weit weg von den Kollegen der uniformierten Truppe. »Ist verdammt viel zu heiß, um in der Sonne rumzustehen«, sagte er, nahm ein Taschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirn.
Ein geschwungener Lattenzaun trennte die Rasenfläche neben dem Weg von der abschüssigen Böschung, die den Park umgab. Er lenkte Gemmas Blick zum Parkeingang. Das laubenartige Dach über dem Holzgatter erinnerte an einen japanischen Schrein, was die in der Sonne schimmernden Gebäude der Canary Wharf jenseits der dichten Baumkulisse wie Fremdkörper in einer Idylle erscheinen ließ.
Der tröstlich vertraute Geruch von gebratenem Speck und Eiern stieg vom Café des ASDA-Supermarkts mit einer sich rasch verflüchtigenden Brise zu ihnen auf, und Gemmas Magen knurrte laut. Vor der ersten Klavierstunde war sie zu nervös gewesen, um zu essen, und sie hatte vorgehabt, sich später ein ausführliches Frühstück zu gönnen. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Ihr Handy hatte geklingelt, noch bevor Wendy Sheinart und sie ihre halbstündige Unterhaltung beendet hatten.
»Um noch mal auf Inspector Coppin zurückzukommen«, sagte sie und warf einen Blick zu den Uniformierten hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie außer Hörweite waren. »Ihr Chief Inspector ist das ganze Wochenende bei der Hochzeit seines Sohnes. Offenbar hat er uns eingeschaltet, ohne sie zu informieren. Sie meint natürlich, daß es eigentlich ihr Fall hätte sein müssen. Und wer will ihr das übelnehmen? Vielleicht kannst du ihr gegenüber etwas nachsichtiger ...«
»Warum soll’s ihr bessergehen als anderen?« entgegnete Kincaid, grinste und wurde schlagartig ernst: »Ist eine harte Erfahrung für sie, aber wenn sie eine gute Kriminalbeamtin werden will, muß sie lernen, damit umzugehen.«
Gemma konnte das nur unterstreichen. Ihr war es nicht anders ergangen. Trotzdem hatte sie Mitleid. »Und wenn schon, ich
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