Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
wußte, daß sie Annabelle in diesem Punkt nie würde das Wasser reichen können, hatte sie sich ihrem Job als Buchhalterin der Firma mit einem Eifer und einer Tüchtigkeit gewidmet, die ihr ihre Kameraden von der Gesamtschule Croyden nie zugetraut hätten ... dort war sie eine so unauffällige Schülerin gewesen, daß einer der Lehrer von ihr einmal gesagt hatte, sie sei »das Mädchen, das man immer übersieht«.
Nach etlichen Buchhalterstellen, die sie in keiner Weise gefordert hatten, hatte sie bei Hammond ohne große Erwartungen angefangen. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie die Branche fasziniert, und sie hatte alles wie ein Schwamm in sich aufgesogen, bei sich ein Organisationstalent und einen Sinn für Zahlen entdeckt, von dem sie nichts geahnt hatte. Sie hatte erfahren, daß sie ein blendendes Erinnerungsvermögen besaß, und eine Leidenschaft für Tee entwickelt, der an Annabelles Besessenheit heranreichte. Vor einem Jahr dann hatte Annabelle sie zu ihrer Finanzchefin gemacht.
Sie waren ein gutes Team und hatten die Traditionsfirma Hammond’s Fine Teas zu einem modernen Unternehmen gemacht. Erst in den vergangenen Monaten, als Annabelle begonnen hatte, die Zukunft der Firma zu planen, hatte Teresa sie zum ersten Mal zaudernd und zweifelnd erlebt.
Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken an die Verabredung zum Frühstück mit Sir Peter Mortimer im Chili’s in Canary Wharf an diesem Morgen. Annabelle war zum vereinbarten Zeitpunkt nicht erschienen, und es war unbegreiflich, daß sie eine solche Verabredung nicht eingehalten hatte. Reg und Teresa hatten Sir Peter, so gut es ging, bewirtet, aber ohne Annabelle hatten sie nicht gewagt, auf den eigentlichen Grund für die Zusammenkunft zu sprechen zu kommen. Als dann der Tag ohne ein Wort der Erklärung seitens Annabelles verging, begann Teresa sich in wachsendem Maß Sorgen zu machen.
Nebenan folgte einem zweiten, dumpfen Plumps laute Musik ... der monotone Rhythmus von Bässen und eine kreischende menschliche Stimme, die Teresa Kopfschmerzen verursachten. Sie zog eine Grimasse, drehte sich um und sammelte ihre Wäsche vom Holzständer. Sie nahm sich vor, Annabelle erneut zu Hause anzurufen. Falls sich dort wieder niemand meldete, wollte sie ins Büro fahren ... vielleicht ließ Annabelle sich ja dort blicken.
Als Teresa einen letzten Blick zum Parkplatz des Supermarkts hinüberwarf, bevor sie in ihrer Wohnung verschwand, fuhr ein ungekennzeichneter weißer Lieferwagen langsam über die Asphaltfläche.
Während sie auf den Leichenwagen warteten, lief Gemma zum Supermarkt-Cafe hinunter, um sich ein Brötchen mit Ei und Speck und eine Tasse Tee zu holen. Schließlich konnte sie nicht wissen, wann sich wieder eine Gelegenheit bieten würde, einen Happen zu essen. Der klimatisierte Supermarkt erwies sich als willkommener Zufluchtsort vor der Hitze. Gemma sah sich interessiert um, während sie ihr Brötchen aus der Zellophanhülle nahm.
Der weitläufige Laden mit der breiten Angebotspalette war nicht die Sorte Geschäft, in die Gemma häufig kam. Allerdings bot er wohl das, was die Bewohner der schicken Wohngegend erwarteten. Erst als sie die Käuferschicht einige Minuten beobachtet hatte, fiel ihr auf, daß der überwiegende Teil aus der Arbeiterklasse stammte. Neugierig geworden, aß sie hastig ihr Sandwich und betrat den Haupttrakt des Supermarkts. Obwohl die Regale gut gefüllt waren, gab es zu ihrer Überraschung kaum Luxuslebensmittel; dafür jedoch Unmengen von Weißbrotsorten.
Sie kaufte eine Packung Ingwer-Nuß-Kekse für den Notfall, steckte sie in die Handtasche und trat in die flirrende Hitze hinaus. Der Leichenwagen parkte unauffällig an der Rückseite des Parkplatzes. Die hintere Flügeltür stand weit auf. Gemma überquerte den heißen Asphalt, und als sie den Pfad zum Mudchute Park erreicht hatte, sah sie, daß die beiden Männer von der Gerichtsmedizin versuchten, die Bahre mit dem schwarzen Leichensack durch die schmale Öffnung der Schwingtür zu manövrieren. Sie hatten hochrote Gesichter und schwitzten, und einer fluchte unablässig und phantasievoll. Kincaid stand ein paar Meter weiter oben am Hang, die Hände in den Taschen, die Lippen ungeduldig aufeinandergepreßt.
Die Träger stellten die Bahre ab und sahen zu ihm hoch. »Tut uns leid, aber wir müssen sie aufrecht nehmen, Boß«, sagte der mit dem reichhaltigen Vokabular.
»Aber vorsichtig, bitte«, mahnte Kincaid, und Gemma hörte,
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