Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Junge. Ich wollte damit nicht sagen, daß du in irgendeiner Form nachlässig gewesen bist. Muß schon schwierig genug für dich sein. Alle deine Pläne ...«
Wie hätte er William sagen sollen, daß es Monate her war, seit Annabelle gewillt gewesen war, über ihre Hochzeit zu sprechen? Daß, als er sie unverblümt gebeten hatte, ein Datum festzusetzen, sie ihm das verweigert hatte? Er hob seine Tasse mit beiden Händen und nippte am Tee. Er war noch zu heiß, aber die Mischung von Schmerz und Wohlbefinden auf den empfindlichen Geschmacksnerven war ihm willkommen. Alles war besser als diese Taubheit. »Sie und ich wissen, wie eigensinnig Annabelle sein konnte«, begann er vorsichtig. »Und wir haben beide gelernt, daß es meistens leichter war, ihr ihren Willen zu lassen, als zu kämpfen und die Schlacht zu verlieren. Aber diesmal habe ich sie zu weit gehen lassen ...« Tränen traten in seine Augen.
William streckte verlegen die Hand aus, tätschelte seine Schulter. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du hast recht. Annabelle hat immer nur das gemacht, was sie wollte. Aber sie war trotzdem ein liebes Mädchen, war alles, was ein Vater sich hat wünschen können.« Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als die Gefühle ihn zu überwältigen drohten, und er wandte den Blick ab, starrte auf das Küchenfenster und in die Blätterkulisse hinaus.
Reg ließ ihm Zeit. Ohne zu fragen, schenkte er etwas Milch in Williams Tasse nach, füllte sie mit frischem Tee aus der Kanne, stand auf und nahm den noch immer kochenden Wasserkessel vom Herd. Nachdem er heißes Wasser in die Kanne nachgegossen hatte, wandte er sich erneut dem Herd zu und starrte wie William aus dem Fenster. Er fühlte, wie sich die Luft um sein Gesicht bewegte, schwer wie eine Hand, wärmer als seine Haut; sie schien keinerlei Kraft zu haben, den Schweiß zu trocknen, der in seinen Hemdkragen rann.
Jos Kinder spielten im Garten nebenan. Er hörte den an-und abschwellenden Klang ihrer Stimmen wie eine Radiosendung aus einem fernen Land. Es hätte seine Stimme sein können, die er wahrnahm, vermischt mit Jos und Annabelles, als sie Vor Jahren in diesem Garten gespielt hatten ... War er in ihrer Kindheit auch schon so grün gewesen? Vielleicht, denn er erinnerte sich plötzlich, daß Annabelle gern so getan hatte, als sei er der Dschungel von Sri Lanka, und die Rhododendronhecke ihrer Mutter eine Teeplantage. Er überlegte, ob es wohl eine genetisch bedingte Veranlagung für Leidenschaften gab, denn in Annabelle hatte sich Williams Begeisterung für Tee unvermindert und in Reinform fortgesetzt, während das Thema bei Jo nie mehr als höfliches Interesse wecken konnte.
Als sie noch zu klein gewesen war, um die komplizierteren Texte in den Büchern des Vaters zu verstehen, hatte Annabelle gefordert, die Bilder erklärt zu bekommen. Sie hatten ihre Phantasie beflügelt. An einem regnerischen Frühjahrstag im Garten hatte sie beschlossen, Teepflücken zu spielen. Es solle der feinste Tee, königlicher Tee sein, hatte sie erklärt, als sie Reg und Jo mit Körben ausgerüstet und instruiert hatte, nur den Trieb und das oberste Blatt von jedem Zweig zu brechen.
Man hatte sie erst entdeckt, als die armen Rhododendronbüsche fast kahl gewesen waren. Und als sie von der wütenden und verblüfften Mutter zur Rede gestellt wurden, hatte Annabelle nur gebrüllt, sie hätte ihre Arbeit eben gründlich erledigt. Danach hatte sie eine Woche Zimmerarrest gehabt.
»Erinnern Sie sich noch daran, wie Annabelle die Rhododendronbüsche abgepflückt hat?« fragte er.
William lächelte. »Und als ihre Mutter sie schließlich wieder aus dem Zimmer gelassen hat, hat sie beim Versuch, die Blätter zu trocknen, fast den Gartenschuppen niedergebrannt.«
Reg ging um den Tisch herum und setzte sich langsam. Er legte die Hände um die Wedgwoodtasse und starrte auf den dünnen Film, der sich über dem Tee bildete, ihn trübte, so wie die Zeit ihre Erinnerung trüben würde, und Annabelles klare Konturen unter dem Schleier liebenswerter Selbsttäuschung verschwimmen würden. Sie würde zu dem »lieben Mädchen« werden, das William in ihr sah, und die Illusionen des Vaters würden von der mehr als in nur einem Punkt fehlerhaften Person unbeeinträchtigt bleiben, die Annabelle verkörpert hatte.
Reg sah auf, begegnete Williams Blick. »Nichts war Annabelle wichtiger als die Firma, das weiß ich jetzt.« Reg hörte erstaunt die Kälte in seiner Stimme
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