Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Seitenstraße, einem kurzen gepflasterten Streifen, der direkt zum Fluß hinunterführte. Eine Bronzetafel im Betonsockel des Hauses informierte Kincaid darüber, daß es sich hier um das Johnsons Drawdock handelte und die Anlegestelle der alten Fähre nach Greenwich gewesen war. Er drehte sich um und sah über die Ferry Street hinweg. Dabei stachen ihm die grellroten und blau gemusterten Waggons der Docklands Light Railway auf der anderen Straßenseite ins Auge, die über das alte Millwall Viadukt und in die Haltestelle Island Gardens donnerten.
Das Absperrband von Scotland Yard flatterte quer vor dem in einer Mauernische liegenden Eingang. Dort stand Gemma und unterhielt sich mit einem uniformierten Polizeibeamten, der offenbar als Wache vor der Wohnung des Opfers abgestellt worden war. »Die Jungs waren einen Tick zu ungeduldig mit dem Schloß«, erklärte der Constable gerade, als Kincaid zu den beiden trat. »Ich soll hierbleiben, bis wir’s repariert haben.«
»Machen Sie eine Teepause«, sagte Gemma. »Vielleicht kriegen Sie auch irgendwo was zu essen«, fügte sie mit einem fragenden Blick auf Kincaid hinzu.
Kincaid nickte. »Schätze, wir brauchen hier ’ne Weile. Zeit genug für eine kleine Pause, wenn Sie wollen.«
»Klar doch, Sir. Heißen Dank.« Er winkte ihnen zu und ging über die Straße in Richtung Park.
Kincaid zog die Augenbrauen hoch, als er die Reste von Annabelle Hammonds Türschloß begutachtete. »Da scheint jemand mit dem Brecheisen hantiert zu haben.«
»Wie nachlässig von ihr, uns keinen Schlüssel hinterlassen zu haben«, bemerkte Gemma, als sie die Tür weit aufstieß. Kincaid folgte ihr.
Er musterte Gemma besorgt. Zu sarkastischen Bemerkungen neigte sie meist nur, wenn sie etwas bedrückte. Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und plötzlich schienen sie sich in der Diele wie in einem geräuschlosen Vakuum zu befinden. Die Stille begann in Kincaids Ohren zu dröhnen. »Gute Schalldämpfung«, bemerkte er, knipste das Licht an und hob die Post auf, die auf dem Fußboden verstreut lag. Nachdem er die Briefe hastig durchgeblättert hatte, legte er sie auf einen Tisch an der Wand.
»Nichts Aufschlußreiches? Keine Briefe, die sie an sich selbst adressiert hatte?«
»Nichts dergleichen. Nur Rechnungen, wie mir scheint.« Er sah von Gemma zu den geschlossenen Türen entlang des T-förmigen Korridors. »Ene mene ming mang ...?«
Gemma überlegte und deutete dann auf die Tür am anderen Ende des kurzen Balkens des Ts. »Die da!«
»In Ordnung.« Der sandfarbene Berberteppich fühlte sich weich unter seinen Sohlen an, als er den Gang entlangging. »Keine Unkosten gescheut, was den Teppich betrifft«, murmelte er.
»Nirgends Unkosten gescheut, würde ich meinen«, sagte Gemma dicht hinter ihm. »Eine Wohnung in diesem Haus muß eine Stange Geld gekostet haben.«
Er öffnete die Tür und fand sich im Wohnzimmer wieder. Sie standen auf der Schwelle und staunten. Vor ihnen lag ein großer, schlicht eingerichteter Raum mit spärlicher Möblierung in neutralen Sand- und Weizentönen. An der gegenüberliegenden Seite führte eine hohe Glastür in einen Garten auf der Rückseite des Gebäudes hinaus, und es war das Grün, das die Glasfenster einfingen und das den zentralen Blickfang des Raumes bildete.
»Phantastisch«, murmelte Gemma und trat näher. »Wie idyllisch. Sie muß den Garten geliebt haben.«
Von einem kleinen, mit Platten ausgelegten, quadratischen Terrassenplatz führten einige Stufen in die Oase zwischen hohen Mauern. Ein weißer Holztisch und Stühle standen unter den Bäumen am hinteren Ende. Einige Töpfe mit Blüten-pflanzen waren die einzigen Farbtupfer, und auf der teppichartigen, sattgrünen Rasenfläche lag verlassen ein Croquetset, als sei jemand mitten im Spiel abberufen worden.
Dieser Garten, der nur auf seine Besitzerin zu warten schien, vermittelte Kincaid ein viel stärkeres Gefühl vom Verlust eines Lebens, als er das beim Anblick von Annabelle Hammonds Leiche im Leichenschauhaus empfunden hatte.
Er wandte sich ab und sah sich neugierig im Zimmer um. Die Spurensicherung war hier offenbar gefühlvoller vorgegangen und hatte, abgesehen von Resten des Puders zur Sicherung von Fingerabdrücken, kaum Spuren ihrer Arbeit hinterlassen. In der linken Wand befand sich ein offener Kamin mit Glaseinsatz, der von maßgefertigten Bücherregalen eingefaßt wurde. Die Lektüre anderer Menschen faszinierte
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