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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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dann, an ihnen vorbeizugehen. Welcher Impuls ihn auch getrieben haben mochte, er hatte sich in Luft aufgelöst. Trotzdem wußte er jetzt, wohin er sich wenden mußte.
      Nachdem er unter dem Fluß hindurch zum anderen Ufer gelaufen und halbwegs die Anhöhe in Greenwich hinaufgestiegen war, war er in Schweiß gebadet. Er bog in den Emerald Cres-cent am unteren Ende ein, und seine Schritte verlangsamten sich, je stärker das Gefühl der Unwirklichkeit in ihm wurde. Über der Gasse lag die typische Stille eines Sonntag morgens, wenn die Familien ausschliefen oder sich beim Frühstück und der Morgenzeitung Zeit ließen. Vogelgezwitscher drang aus den Hecken, und jeder Gedanke an den Tod erschien grotesk.
      Als er sich dem oberen Ende der Gasse näherte, stieg das Land zu seiner Linken steil an. Zwischen den dicken Stämmen der Bäume am Abhang hindurch schimmerte William Hammonds blaßblaue Haustür. Vor ihm, dort, wo die Straße eine scharfe Biegung nach rechts machte, lag Jos quadratisches Haus am Fuß des Hanges an der Straße. Die rückwärtigen Gärten der beiden Grundstücke grenzten aneinander, waren jedoch nicht durch eine Tür miteinander verbunden.
      Jo und Martin Lowell hatten das Haus gekauft, als Isabel Hammond schwer krank geworden war. Während es für Reg undenkbar schien, neben seinem Vater zu wohnen, konnte er Jos Wunsch verstehen, sich in der Nähe der Eltern anzusiedeln. Seine Familie hatte in einem georgianischen Stadthaus in Knightsbridge gewohnt, und als er als Kind hierhergekommen war, war er sowohl von der idyllischen Atmosphäre der schmalen Straße als auch vom Haus der Hammonds fasziniert gewesen. Geduckt am Hang liegend, von Bäumen geschützt, war es ihm geradezu märchenhaft erschienen.
      An diesem Morgen jedoch wollte er nicht zu Jo ... er konnte und wollte noch nicht darüber nachdenken, was dort am Freitag abend geschehen war. Plötzlich fiel ihm ein, daß Jo bei William sein könnte, und er zögerte einen Moment. Dann zuckte er die Schultern und begann den Treppenweg über den mit Efeu überwucherten Hang hinaufzusteigen. Er mußte nichts befürchten. Jo würde vor ihrem Vater nichts sagen.
      Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln, und er hätte beinahe auf der steilen Treppe seine Balance verloren. Er hätte schwören können, ein helles, leises Lachen zu hören, aber er konnte niemanden sehen. Dann, als er sich wieder dem Aufstieg zuwandte, flackerte am Rand seines Blickfeldes ein Bild auf... von einem Mädchen, das vor ihm davon- und die Treppen hinaufrannte. Sie hatte nackte Beine, und ihr rotes zu einem langen Zopf geflochtenes Haar hüpfte auf ihrem Rücken auf und ab.
      Blinzelnd schnappte er nach Luft. Da war niemand. Er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam, und stieg langsam weiter hinauf. Schlafmangel, keine regelmäßigen Mahlzeiten und zu viele rückwärtsgewandte Gedanken, dachte er.
      Als er Williams Haustür erreicht hatte, hatte er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden.
      William Hammond öffnete selbst. Reg sah ihn an und erkannte, daß er bis zu diesem Zeitpunkt William Hammond nie für einen alten Mann gehalten hatte. Als Kind hatte er ihn so sehr bewundert, daß er sich dieses Bild von ihm bewahrt hatte. An diesem Morgen jedoch schien William in sich zusammengesunken, wirkte in seinem schwarzen Anzug gebrechlicher, als er war, und seine Haut war plötzlich welk.
      Reg schluckte. »Mr. Hammond«, begann er. »Mein herzliches Beileid. Kann ich irgend etwas tun?«
      William lächelte und streckte seine Hand aus, die zitterte, als habe er Schüttellähmung. »Reginald, mein Junge. Wie lieb von dir, daß du vorbeischaust. Komm rein. Trink eine Tasse Tee mit mir.«
      Reg folgte ihm durchs Haus und in die Küche. William stellte den Wasserkessel auf und bedeutete Reg, sich zu setzen. »Jo wollte Kekse rüberbringen, aber bisher hat sie’s wohl noch nicht geschafft.«
      »Macht nichts, Mr. Hammond. Schätze, Jo hat heute morgen genug um die Ohren.«
      »Ja, ja. Sie hat alles in die Hand genommen. Die ganze Te-lefoniererei und so. Sie und Annabelle sind Organisationstalente ... wie ihre Mutter.« William stellte kobaltblaue und rostrote Teetassen aus hauchdünnem Porzellan auf ein Tablett und griff nach einem hell gemusterten Paket Ceylon-Tee mit dem Warenzeichen der Firma Hammond’s. Annabelle hatte die Mischung selbst zusammengestellt, und es war ihr Lieblingstee gewesen.
      Reg unterdrückte den Impuls,

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