Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
können.« Gemma steckte die Box in eine Mülltüte und trank Fruchtsaft aus einer Flasche.
»In der Kantine? Du bist gut.« Der Geruch von Bratfett in der stickigen Mittagshitze hatte sie veranlaßt, ihre Lunchboxen zu schnappen und das Limehouse-Revier fluchtartig zu verlassen.
Er bog nach rechts in die Ferry Street ein und deutete durch die Windschutzscheibe. »Dort. Auf der rechten Seite. Das ist die Kneipe, in der sich Annabelle angeblich mit Reg Mortimer treffen wollte: das Ferry House.«
»Angeblich?« Gemma sah ihn an.
»Also, einen Beweis dafür gibt es nicht, oder?« Die Straße machte kurz hinter dem Lokal eine scharfe Linkskurve. Von hier aus verlief die Ferry Street einerseits parallel zum Fluß und andererseits neben der Manchester Road. Kincaid fuhr langsam, machte sich den ruhigen Verkehr am Sonntag nachmittag zunutze, um sich die Wohnhäuser zwischen Gaststätte und Annabelle Hammonds Apartmenthaus genauer anzusehen. »Wir sollten jemanden in das Lokal und in die Häuser auf der anderen Seite schicken. Kann nicht schaden, sich genauer zu erkundigen, ob jemand was gesehen hat.« Er schob den letzten Bissen in den Mund. »Mortimer könnte auch die Geschichte mit dem Straßenmusiker erfunden haben.«
»Glaube ich nicht.« Gemma runzelte die Stirn. »Hast du ihm geglaubt? Gordon Finch, meine ich.«
Kincaid kaute und dachte nach. »Falls er wußte, weshalb wir ihn vorgeladen haben, ist er ein verdammt guter Schauspieler«, sagte er schließlich. »Aber ich könnte schwören, daß er Annabelle Hammond gekannt hat. Außerdem hat ihn die Anspielung überrascht, es bestünde eine Verbindung zwischen ihr und seinem Vater.«
»Meines Erachtens hat er nicht gewußt, daß sie tot ist.«
»Meinst du damit, daß er sie nicht umgebracht haben kann? Warum hat er dann nicht zugegeben, daß er sie kennt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist er es nicht gewöhnt, sich gegenüber der Polizei kooperativ zu verhalten«, sagte Gemma mit einem Anflug von Sarkasmus.
»Ich finde, wir sind sehr zivilisiert mit ihm umgegangen.« Sie waren jetzt auf der Höhe von Annabelles Apartmenthaus. Kincaid parkte den Wagen am Straßenrand. Einen Moment blieben sie im Auto sitzen. »Bevor wir die Nagelstiefel anziehen, sollten wir abwarten, ob Inspector Coppin fündig wird.« Janice Coppin hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, daß der Fußgängertunnel von Kameras überwacht wurde und daß sie sich auf die Suche nach den Videobändern machen wolle. »Außerdem sollten wir uns mit den Wohnungseigentümern hier unterhalten«, fügte er hinzu. Die Tore, die zu den drei Häusern am Flußufer führten, waren geöffnet, so daß sie einen Blick auf einen grünen, einladenden Hofgarten erhaschen konnten.
Als sie weiterfuhren, donnerte ein farbenfroher Zug der Docklands Light Railway in die erhöht gelegene Haltestelle Island Gardens auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Gemma runzelte die Stirn. »Sie hätte von hier aus praktisch überallhin fahren können.«
»Wie bitte?«
»Zwischen dem Zeitpunkt, da Reg Mortimer Annabelle nach seiner Aussage im Tunnel allein gelassen hat, und ihrer von Dr. Ling geschätzten Todeszeit liegen drei Stunden. Und wir haben keine Ahnung, was sie da gemacht hat. Die Bahnlinie ist so nah, daß sie praktisch überallhin in London hätte fahren können.«
An der Island Gardens Station ging die Ferry Street in die Saunders Ness Road über, und Janice hatte ihn angewiesen, diese bis zum Ende zu fahren. Er warf einen Blick auf den gewölbten Eingang des Fußgängertunnels hinüber, als sie daran vorbeikamen, und auf die Menschenmenge, die versuchte, das beste aus ihrem Sonntag nachmittag in den Island Gardens zu machen. Durch das Blätterwerk des Parks schimmerte das Wasser der Themse, und auf der anderen Seite des Flusses war die weiße, klassisch-symmetrische Silhouette des Royal Naval College zu sehen. »In diesem Fall muß der Mörder ihre Leiche wieder zurückgebracht haben. Ich meine, damit es so aussah, als sei sie praktisch vor ihrem Haus umgebracht worden, oder?«
»Ist nicht auszuschließen.«
»Nein. Aber komplizieren wir die Dinge nicht mehr als nötig. Es ist genauso wahrscheinlich, daß sie die Insel, wenn nicht sogar diese Gegend hier, nie verlassen hat.« Als sie den Park passiert hatten, säumten neue Wohnkomplexe unterschiedlichster architektonischer Stilrichtungen und Nutzungsarten das Flußufer.
»Komische Gegend für
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