Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
hatte scharenweise Ausflügler aus der Stadt gelockt. Die Aussicht auf den Kampf um einen Sitzplatz war kaum erhebend. Er bereute plötzlich, nicht mit dem Wagen gekommen zu sein. Sonst hätte er jetzt nach Grantchester fahren und dort auf Vic warten können.
Trotzdem sah er keinen Grund, so früh nach London zurückzukehren. Seit Sonntag hatte Gemma ihn im Büro mit einstudierter Höflichkeit behandelt und sich abends mit Mutterpflichten entschuldigt. Er hatte keinen Grund zu der Annahme, daß es an diesem Abend anders sein würde.
Die Ampel schaltete auf Gelb. Er überquerte die Kreuzung in einem Pulk von Fußgängern und blieb auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stehen. Dann wandte er sich entschlossen nach links und schlug den Weg ein, der sich an den Backs entlangschlängelte. Von hier aus konnte er King’s College Chapel auf dem anderen Flußufer sehen. Plötzlich riß die Wolkendecke auf, und die letzten Sonnenstrahlen des Tages leuchteten golden auf den Kirchturmspitzen. Wurden Ausblicke wie diese zur Selbstverständlichkeit, wenn man sie täglich sah? Kincaid ging nachdenklich weiter.
Waren sie für Lydia Brooke zur Gewohnheit geworden, während sie sich in Cambridge dem Studium und der Liebe hingegeben hatte? Oder war die Reihenfolge eher Liebe und Studium gewesen, fragte er sich mit einem Lächeln. Dann stellte sich die ernüchternde Erinnerung an den Bericht wieder ein, den er am Nachmittag gelesen hatte. Er verstand Alec Byrnes Trotzreaktion. Trotzdem waren die Ermittlungen in keiner Weise schlüssig. Wäre es sein Fall gewesen, hätte er sich mit dieser oberflächlich glatten Lösung nicht zufriedengegeben. Hatte sich überhaupt jemand die Mühe gemacht festzustellen, was Lydia Brooke an jenem Tag getan hatte? Wen sie gesprochen und was sie gesagt hatte? Und falls sie tatsächlich im Garten gearbeitet hatte, - wofür vieles sprach, ob dabei vielleicht etwas Ungewöhnliches vorgefallen war? Hatte es Anzeichen dafür gegeben, daß sie auf diese Weise von ihrem Garten Abschied genommen hatte?
Auch die Sache mit der defekten Außenbeleuchtung beschäftigte ihn. Hatte man überprüft, ob sie schon einige Zeit nicht mehr funktioniert hatte oder nur rein zufällig am Abend von Lydias Tod ausgefallen war?
Kincaid blieb stehen und warf einen Blick auf seinen Taschenstadtplan von Cambridge. Die Gasse zu seiner Rechten führte zu einer Brücke über den Fluß, und Vics College lag direkt gegenüber am anderen Ufer. Er bog in diese Richtung ab. Auf dem Scheitelpunkt des Brückenbogens blieb er stehen, lehnte sich über das Geländer und sah flußabwärts zu den Weiden hinunter, deren tiefhängende Äste nach dem eigenen Spiegelbild zu greifen schienen. Ihre pelzigen, blaßgelben Kätzchen hätten vom Pinsel eines Seurat stammen können, und die vertäuten Ruderkähne bildeten den passenden Kontrast, kompakte Placken aus Grün und Dunkelbraun, die sanft auf dem Wasser schaukelten.
Auf der gegenüberliegenden Uferseite herrschte ein klotziges Backsteingebäude hinter einer Mauer über ausgedehnte Gärten. Das mußte das Gelände vom All Saints’ College sein.
Als er sich umdrehte, um seinen Weg fortzusetzen, zischte ein Fahrradfahrer lautlos an ihm vorbei und streifte ihn an der Schulter. Kincaid hielt sich von da an vorsichtig in der Nähe des Geländers und sah sich immer wieder um. Auf der anderen Seite der Brücke verengte sich der Weg zwischen den Mauern von All Saints’ zu seiner Rechten und denen vom Trinity College zu seiner Linken. Am ersten Tor des All Saints’ College blieb er stehen und spähte neugierig in den peinlich sauber gepflegten Hof. Hatte in Lydias Akte nicht gestanden, daß Nathan Winter, der Mann, der die tote Lydia gefunden hatte, Professor im All Saints’ College gewesen war? Cambridge ist wirklich ein Dorf, dachte er und fragte sich, ob Vic diesen Nathan wohl durch ihre Tätigkeit im College oder während ihrer Recherchen über Lydia Brooke kennengelernt hatte. Winter war laut Akte Botaniker, und er erinnerte sich vage, daß Vic Nathan bei ihrem Gespräch über den Garten erwähnt hatte. Es kam ihm jetzt ein wenig merkwürdig vor, daß Lydia einen Botaniker zu ihrem literarischen Nachlaßverwalter bestimmt haben sollte.
Kincaid ging achselzuckend weiter und bog um die Ecke in die Trinity Lane. Dabei fiel ihm noch etwas Befremdliches aus seinem Gespräch mit Vic ein. Lydia war ihrer Aussage nach nur einmal verheiratet gewesen, und zwar in
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