Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
das hier sehr ...« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Aber ich fühle mich eher als unbeteiligte Betrachterin. Ihr dagegen scheint Teil dieses Ganzen zu sein. Kit kann Stunden hier unten verbringen und Käfer beobachten.« Sie lächelte.
»Ein angehender Naturwissenschaftler«, urteilte Nathan nachdenklich. »Ich möchte ihn näher kennenlernen. Liest er? Er sieht gar nicht so aus. Ich habe ihn offengestanden eher für einen Rugby- oder Fußballfan gehalten.«
»Oh, er ist gut im Sport, und er tut, was man in der Schule von ihm verlangt. Aber mit dem Herzen ist er nicht dabei. Und das ist komisch, weil er, was Schule betrifft, schon immer sehr ehrgeizig war - mehr noch, seit Ian fort ist. Gestern habe ich ihn dabei ertappt, wie er wegen einer Note in einer Schularbeit geweint hat. Und er war wütend auf mich, weil ich ihn dabei erwischt habe. Er hat zwei Tage nicht mit mir geredet.« Vic wußte plötzlich nicht recht, ob sie sich schuldig fühlen mußte, weil sie aus der Schule geplaudert hatte. Normalerweise besprachen Eltern das unter sich. Sie hätte allerdings Ian nicht einmal etwas davon erzählt, wenn er dagewesen wäre. Er hätte ihr nur einen salbungsvollen Vortrag gehalten, und wie immer am Thema vorbeigeredet.
»Armer Junge«, sagte Nathan, und seine Jacke knisterte, als er sich im Dunkeln bewegte. »Vielleicht kannst du ihn ermutigen, sich Wissen um des Wissens willen anzueignen, unabhängig vom Zuckerbrot-und-Peitschen-System der Schule.«
Vic hörte einen leisen Plumps vom Fluß her. Ein Frosch? Oder ein springender Fisch? Wie unwissend war sie doch außerhalb ihres kleinen Arbeitsgebiets. An diesem Abend erschien ihr der Fluß wie eine dunkle Leere in der Landschaft - sie hatte ihn nie als Brennpunkt eines Lebens begriffen, das so kompliziert und chaotisch war wie ihr eigenes.
Jetzt erlebte sie, daß man Licht und Bewegung sehen konnte, die Reflexion des Sternenlichts, das durch das Geäst der Kastanien fiel, wenn man nur lange genug aufs Wasser starrte. »Und wie bringe ich Kit bei, sich für Wissen um des Wissens willen zu interessieren?«
»Sieh dich selbst an«, erwiderte Nathan leise. »Hast du vergessen, warum du tust, was du tust? Das ist schon ein Anfang. Und ich habe ein paar Bücher, die ihm vielleicht gefallen. Warum kommst du nicht mit mir rauf zum Haus?« fügte er hinzu und nahm ihren Ellbogen. »Ich habe auch für dich etwas.«
Vic stellte fest, daß ihr neues Bewußtsein von der Erkenntnis über die Natur sich auch auf ihr Körpergefühl auswirkte. Sie spürte die Wärme von Nathans Hand durch den dicken Ärmel ihrer Wolljacke hindurch, die ein so schmerzlich drängendes Verlangen in ihr hervorrief, daß ihre Knie weich wurden. Gott, sie hatte sie fast vergessen, die Kraft dieses Gefühls, und es traf sie völlig unvorbereitet. Sie hatte plötzlich die Vision von Nathans Hand an ihrer Brust und stolperte blindlings vorwärts.
»Alles in Ordnung?« Er faßte sie fester.
»Jaja, schon gut«, sagte sie etwas atemlos, unterdrückte ein Lachen und versuchte des inneren Hochgefühls Herr zu werden. »Alles in Ordnung.«
»Möchtest du was zu trinken?« fragte Nathan. »Wein oder ...«
»Whisky«, fiel Vic ihm entschieden ins Wort. Sie stand vor dem Kamin in seiner Wohnküche, als sei ihr kalt, doch ihre Wangen glühten.
Nathan beobachtete sie, während er zwei Gläser Whisky einschenkte, und fragte sich, ob sie eine Erkältung ausbrütete. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie sich in den vergangenen Minuten reichlich merkwürdig verhalten hatte. Sie hatte ihn nicht oft berührt, doch an diesem Abend, als er auf dem gefahrlosen Teil des Weges ihren Arm losgelassen hatte, um nicht aufdringlich zu erscheinen, war sie so dicht an seiner Seite geblieben, daß sich ihre Schultern berührt hatten.
Nathan reichte ihr das Glas und prostete ihr zu. »Zum Wohl.«
Vic trank einen für eine so zierliche Person erstaunlichen Schluck und bekam prompt einen Hustenanfall. Als er ihr vorsichtig den Rücken klopfte, begann sie zu zittern.
»Jetzt mal ehrlich, Vic! Dir geht’s doch nicht gut. Laß mich ...«
»Nein, es geht mir bestens, Nathan. Wirklich«, sagte sie mit tränenden Augen. »Das Zeug hier hat mich nur etwas überrascht.« Sie nahm einen kleineren Schluck. »Siehst du? Alles in Ordnung. Und jetzt erzähl mir von den Büchern für Kit.«
Er ging zu einem seiner Bücherschränke an der Wand gegenüber der
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