Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
jungen Jahren. Weshalb sollte Lydia alles einem Mann hinterlassen haben, von dem sie seit über zwanzig Jahren geschieden war?
Er drängte sich flach gegen eine Mauer, als eine Gruppe von Radfahrern vorbeischoß, und stolperte dann über ein Fahrrad, das vor einem Laden abgestellt worden war. Er fluchte unterdrückt. In dieser Stadt konnte man sich vor lauter unseligen Fahrradfahrern und ihren Gefährten kaum frei bewegen.
Newnham
16. November 1961
Liebste Mutter,
Dein Geburtstagsgeschenk kam sehr gelegen und reichte gerade für den Kauf eines soliden, gebrauchten Fahrrads. Es hat zwar ein paar Beulen und Lackkratzer, aber das ist in meinen Augen nur ein Zeichen von Charakter.
Cambridge ist ohne Fahrradfahrer nicht vorstellbar. Sie sausen überall an dir vorbei, die schwarzen Talare der Studenten flatternd wie Krähenflügel. Selbst wenn man den Erstsemestern Autos erlauben würde, wäre kein Platz zum Parken da, also funktioniert das System ziemlich gut.
Dank des Fahrrads erobere jetzt auch ich jeden Winkel der Stadt und entdecke überall neue faszinierende Ecken .... und Läden. Mein Taschengeld fließt in den Erwerb antiquarischer Bücher. Ich liebe den trockenen, muffigen Geruch alter Bücher, das Gefühl des seidigen Papiers zwischen den Fingern, jedenfalls wächst die Büchersammlung in meinem Zimmer, und nichts, finde ich, macht eine Wohnung heimeliger. Manchmal empfinde ich schon ein Hochgefühl, wenn ich ein Buch nur in den Händen halte.
Das klingt fast, als würde ich das Leben einer Einsiedlerin führen. Aber ich versichere Dir, das ist nicht der Fall. In Cambridge gibt es Clubs für alles - von der Häkelgruppe bis zum Förderverein zur Gleichberechtigung der Pinguine -, und alle werben eifrig um Mitglieder. Die Hauptattraktion bei den entsprechenden Veranstaltungen sind die freien Getränke. Man sollte sich in Enthaltsamkeit üben, wenn man nicht später beim Spendensammeln zu locker in den Geldbeutel greifen will. Nur die Schriftstellerei ist bei all diesen Vereinigungen unterrepräsentiert. Aber ich lerne immer mehr Gleichgesinnte kennen, und vielleicht können wir bald unseren eigenen Club gründen.
Ich bin mittlerweile so häufig eingeladen worden, daß ich mich jetzt entschlossen habe, mich am Donnerstag in meinem Zimmer mit einer Sherry-Party zu revanchieren. Ich habe Adam eingeladen, den Jungen, den ich im King’s College getroffen habe. Er ist ein Trinity-Stu-dent, hört Philosophie und scheint Dichtung nur als Vehikel für politische Ansichten zu betrachten. Über dieses Thema hatten wir schon herrlich hitzige Dispute.
Adam hat mich neulich zu einer Tanzveranstaltung des Labor Club geschleppt, wo ich einen attraktiven Jungen namens Nathan kennengelernt habe. Er ist ebenfalls eingeladen. Nathan ist muskulös, hat helle Haut und dunkles Haar und die lustigsten braunen Augen, die ich je gesehen habe. Er studiert Naturwissenschaften und will Dichter und Botaniker werden wie Lorren Eisley.
Mit Daphne von gegenüber sind wir dann zu viert. Ich serviere guten Sherry und Kekse und werde mich ausgesprochen intellektuell fühlen.
Und falls Du jetzt denkst, daß ich nur herumschwadroniere, versichere ich Dir, geliebte Mutter, daß ich eine beispielhafte Studentin gewesen bin. Ich habe mich auf die Themen festgelegt, in denen ich Scheine machen will. Mein Vorlesungsplan umfaßt elf Stunden in der Woche. Unter anderem höre ich übrigens Vorträge von F. R. Leavis über Literaturkritik. Ich fühle mich ganz klein bei der Vorstellung, Vorlesungen von Männern zu besuchen, deren Bücher in meinem Bücherregal stehen.
Ich habe mich entschlossen, meinen Geburtstag heute abend allein in meinem Zimmer zu feiern. Nicht, weil ich mich in Selbstmitleid ergehen will, sondern weil ich mich dann Dir und meinem Zuhause am nächsten fühle. Ich stelle mir vor, wie Du mit Nan nach dem Abendessen vor dem Kamin sitzt, und wenn ich meine Augen schließe und mich fest genug konzentriere, dann kann ich ... fast ... bei Euch sein.
In Liebe, Lydia
Vic nahm ihre alte Wolljacke vom Haken und schlich sich leise aus der Hintertür. Sie hatte Kit um zehn ins Bett gebracht, unter dem üblichen allabendlichen Protestgeschrei. Kit empfand sich mit elf Jahren als viel zu erwachsen, um eine bestimmte Schlafenszeit einhalten zu müssen, auch wenn er Gefahr lief, anderntags seinen Wecker zu überhören, was schon häufig genug vorgekommen war.
Vic schlüpfte auf der
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