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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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Terrasse in ihre Jacke und sah zum Himmel auf. Dem strahlend klaren Tag war eine kalte Nacht gefolgt. Die Sterne direkt über ihr waren durch einen hohen Nebelschleier nur schwach zu erkennen, während die im Norden im rosaroten Widerschein von Cambridge versanken.
      Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, trat sie auf den Rasen, überquerte ihn hastig und ging durch die Tür am Ende des Gartens. Kein Mond stand am Himmel, aber sie hätte den Weg zum Fluß auch blind gefunden. Ein Schatten bewegte sich unter den Kastanien am Ufer. Als sie näher kam, erkannte sie die Silhouette eines kräftig gebauten Mannes. Das schwache Licht der Sterne glänzte fahl auf seiner Öljacke und seinem silbergrauen Haar.
      »Nathan.«
      »Ich dachte mir, daß du vielleicht kommst. Hat Kit dir das Leben wieder schwergemacht?« So voll klang seine Stimme in der Dunkelheit, daß sie ihr wie losgelöst, körperlos, die Quintessenz seiner Persönlichkeit erschien.
      »Es sind diese Träume«, sagte sie und zog die Jacke enger um sich, als sie die Kälte vom Fluß spürte. »Komisch, als kleiner Junge hatte er nie Alpträume.« Sie seufzte. »Hat vermutlich mit Ian zu tun. Falls er ihn vermißt, dann verliert er kein Wort darüber. Er will mir auch nicht sagen, wovon er träumt.«
      »Die Fähigkeit der Kinder, sich mit ihren kleinen Leiden einzuigeln, verwundert mich immer wieder. Die Angewohnheit von uns Erwachsenen, alle unsere Traumata vor aller Welt auszubreiten, muß anerzogen sein.« Er lachte verhalten, und doch hatten seine Worte mitfühlend geklungen.
      »Wie dumm von mir! Manchmal vergesse ich, daß du das alles schon hinter dir hast. Das kommt, weil ich dich als unabhängige Person und ohne all diese Familienanhängsel sehe, die wir anderen mit uns herumschleppen.« Dann, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, hielt sie die Luft an und schlug die Hand vor den Mund. »Oh, Nathan. Entschuldige! Das war schrecklich gedankenlos von mir.«
      Diesmal lachte er laut auf. »Im Gegenteil. Ich nehme es als Kompliment. Weißt du eigentlich, wie hart ich mir in den vergangenen Jahren diese Unabhängigkeit erarbeitet habe? Zuerst war es nur die Abwehr gegen all die wohlmeinende Besorgtheit - ich konnte sie nicht mehr ertragen - aber dann wurde daraus etwas, das ich für mich tun mußte. Ich hatte zwanzig Jahre lang als die eine Hälfte eines Ganzen funktioniert, und es gab Momente, da die Aufgabe nicht zu bewältigen schien.« Er hielt inne, als wehre er sich gegen die schleichende Resignation in seiner Stimme. Schließlich fügte er temperamentvoller hinzu: »Was meine Mädels betrifft, du kennst sie leider noch nicht. Aber ich versichere dir, ich habe mich als Vater durchaus bewährt. Auch wenn es mir gelegentlich nicht in den Kopf will, daß sie meine biologischen Ableger sein sollen. Vielleicht geht das allen Eltern so.«
      Wie wenig ich ihn kenne, dachte Vic. Und wie vertraut ihr seine Gegenwart war, ausgerechnet ihr, die nie schnell Freundschaften geschlossen hatte. Sie mußte kurz nach dem Tod seiner Frau am All Saints’ College angefangen haben, und sie erinnerte sich, ihn nur vage als attraktiven, etwas abwesend wirkenden Mann wahrgenommen zu haben, mit dem sie gelegentlich bei einem Glas Sherry im Aufenthaltsraum des Lehrkörpers Höflichkeiten ausgetauscht hatte. Außerhalb des Colleges hatten sich ihre Wege nur selten gekreuzt. Erst als sie mit den Recherchen über Lydia Brooke begonnen hatte, hatte sie erfahren, daß Nathan der literarische Nachlaßverwalter der Brooke war.
      Sie hatte sich an ihn gewandt, und er war durchaus hilfsbereit gewesen. Er hatte sie mit Material über Lydia versorgt, ohne eigene Erinnerungen preiszugeben. Erst als sie eines Tages zufällig erwähnt hatte, daß sie in Grantchester wohnte, hatte er seine unpersönliche Haltung aufgegeben, und seit Ians Verschwinden hatten sie zunehmend mehr Zeit miteinander verbracht.
      »Horch doch mal!« Nathan legte den Finger an die Lippen. »Hörst du das?«
      Vic lauschte mit angehaltenem Atem. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, dann einen Schrei. »Was ist das?« flüsterte sie.
      »Eine Schleiereule. Eine Seltenheit. Ist fast ausgestorben. Erinnert mich an meine Kindheit. Sie und das Quaken von Baumfröschen. Damals habe ich den Fluß geliebt. Manchmal hatte ich das Gefühl, als fließe er durch meine Adern.«
      »Ich glaube, Kit geht das genauso. Ich beneide euch beide ein bißchen. Ich mag

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