Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
war, und ich ...« Er schüttelte den Kopf, und Gemma glaubte, einen feuchten Schimmer in seinen grauen Augen zu erkennen. »Ich war am Freitag abend nicht wütend ... Ich habe mir Sorgen gemacht. Annabelle hatte auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, die völlig untypisch für sie klang ... sie sagte etwas davon, ihre Verlobung lösen zu wollen. Ich wollte wissen, was passiert war.«
»Und hat sie Sie wieder angerufen?«
»Nein. Ich habe bis kurz nach Mitternacht gewartet... dann nicht mehr. Ich mußte am nächsten Morgen sehr früh zu einer Besprechung nach Gloucestershire.«
»Haben Sie einen Zeugen ... ein Alibi... für Freitag abend, Mr. Finch?«
»Ich lebe allein, Superintendent. Da gibt es niemanden.« Lewis Finch sah Gemma in die Augen. »Überhaupt niemanden.«
Als sie zum Limehouse-Revier zurückkamen, saß Janice Coppin im Bereitschaftsraum und sortierte Berichte. Sie machte ein Gesicht, als könnte sie kein Papier mehr sehen.
»Hat die Befragung von Haus zu Haus was gebracht?« wollte Kincaid wissen und setzte sich auf die Kante von Janice’ Schreibtisch.
»Nur im negativen Sinn«, antwortete Janice und deutete auf die Papiere. »Niemand hat Annabelle Hammond an jenem Abend gesehen. Falls sie nach Hause gekommen ist, haben’s ihre Nachbarn jedenfalls nicht gemerkt, und keiner von ihnen konnte viel über sie sagen. Ihre Nachbarn auf der anderen Seite des kleinen Gartens, ein junges deutsches Paar, gaben zu, sie mit einem netten jungen Mann Croquet spielen gesehen zu haben, aber für eine Personenbeschreibung hat ihr Englisch wohl nicht gereicht.«
»Jemand soll ihnen ein Foto von Reg Mortimer zeigen, obwohl wir annehmen können, daß er derjenige gewesen ist.« Mit einem Blick auf Gemma fügte Kincaid hinzu: »Wenn Gordon Finch die Wahrheit sagt, hat Annabelle ihn nie in ihre Wohnung gebeten. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand Gordon Finch ... Sprachprobleme eingerechnet ... als netten jungen Mann beschreiben würde ...«
»Was ist mit dem Lokal - dem Ferry House -, wo Mortimer angeblich auf Annabelle gewartet hat?« fragte Gemma.
»Das ist das einzig Positive an der Sache«, erwiderte Janice. »Der Barkeeper hat ausgesagt, Mortimer und Annabelle vom Sehen zu kennen. Er wisse daher genau, daß Mortimer gegen zehn Uhr an jenem Abend allein ins Lokal gekommen sei. Er habe Orangensaft bestellt, aber es sei ziemlich viel los gewesen, so daß er nicht beschwören könne, was er danach noch gemacht habe.«
»Aber sein Eindruck war ...«, half Kincaid ihr auf die Sprünge.
»Sein Eindruck war, daß er bis Lokalschluß geblieben ist.«
»Könnte er Annabelle getötet haben, als sie den Tunnel verlassen hat, und ihre Leiche irgendwo versteckt haben, um sie nach Lokalschluß in den Park zu bringen?«
»Unwahrscheinlich. Es sei denn, er hätte sie in ihrer Wohnung umgebracht. Ich glaube nicht, daß es in der Umgebung des Tunnels möglich gewesen wäre, eine Leiche zu verbergen. Wäre viel zu riskant gewesen. Trotzdem ... Mortimer hatte offenbar allen Grund zur Eifersucht.« Kincaid berichtete Janice daraufhin, was sie in den Gesprächen des Nachmittags erfahren hatten.
»Hatte was von einer läufigen Hündin, die Dame, was?« bemerkte Janice, als er geendet hatte. »Die Frage ist, ob Mortimer gewußt hat, was sie trieb?«
»Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, ihn zu erreichen.« Kincaid hatte nach ihrem Besuch bei Lewis Finch erneut von seinem Handy aus in der Firma Hammond’s angerufen. Aber Mortimer war nicht ins Büro zurückgekommen, und in seiner Privatwohnung hob niemand das Telefon ab. »Wir wissen, daß er heute morgen im Büro war. Ich bezweifle also, daß er sich irgendwie abgesetzt hat. Gleich morgen früh kümmer ich mich um ihn. Außerdem habe ich auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, daß er uns anrufen soll.«
»Ah, dabei fällt mir was ein!« Janice kramte in den Papieren auf ihrem Schreibtisch, bis sie einen Notizzettel gefunden hatte. »Vom Yard hat jemand für Sie angerufen. Ein Mann namens Ian McClellan versucht, Sie zu erreichen. Er ist offenbar in London und möchte Sie heute abend treffen.«
»Ian McClellan?«
»Hier ist die Nummer, die er hinterlassen hat. Ist er eine neue Spur?«
»Eine Spur?« Kincaid merkte, daß er offenbar ein reichlich dummes Gesicht machte, und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Er vermied es, Gemma
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