Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
auch zu einem Mord - getrieben haben.«
»Oder wenn er bereits einen Verdacht hatte, der sich letztendlich bestätigt hat. Aber das erklärt nicht den Streit bei der Dinnerparty - und in diesem Punkt haben wir nur Jo Lowells Wort - oder die Tatsache, daß er sie im Tunnel mit Gordon Finch alleingelassen hat«, gab Gemma zu bedenken. »Auch die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter scheinen seine Version der Geschichte zu bestätigen.«
Sie hatten Royal Hill erreicht. Gemma blieb stehen, um in das Schaufenster eines Käseladens zu sehen. In der Scheibe spiegelte sich, wie Kincaid feststellte, die Fassade des Polizeireviers gegenüber. »Er könnte sie ohne weiteres umgebracht und dann die Nachrichten auf Band gesprochen haben, um sich ein Alibi zu verschaffen«, entgegnete Kincaid.
Gemma ging weiter, schwenkte ihre Handtasche gegen den Rock ihres Baumwollkleids und ließ die Versuchung nach weißem Stilton mit Ingwer und Shropshire-Blauschimmelkäse zurück. »Aber man konnte doch die lauten Geräusche der Kneipe im Hintergrund hören. Er muß also vor Lokalschluß angerufen haben. Und die Pathologin sagt, daß Annabelle nach Mitternacht gestorben ist.«
»Damit kommen wir nicht weiter. Warten wir ab, bis wir noch mal mit Mortimer gesprochen haben«, schlug Kincaid vor. »Jetzt interessiert mich erst mal, warum Jo Lowell von der Vorstellung gar nicht begeistert war, daß wir mit ihrem Ex-mann sprechen wollen.«
»Deine Neugier wird gleich befriedigt werden.«
Sie fanden die Bank ohne Schwierigkeiten, wie Jo es prophezeit hatte. Der Mann am Schalter wies ihnen den Weg zu Martin Lowells Büro.
»Mr. Lowell?« Kincaid klopfte an die offene Tür des kleinen, durch Glas abgetrennten Raumes. »Wir sind von Scotland Yard ... Superintendent Kincaid, Sergeant James.« Er klappte seinen Dienstausweis auf. »Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
Der gutaussehende Mann hinter dem Schreibtisch sah auf. Der gereizte Ausdruck entstellte ihn etwas. Er war dunkelhaarig, glattrasiert und trug die für Banker typische Berufskleidung mit weißem Hemd und dunkler Krawatte. Die Hemdsärmel allerdings hatte er aufgerollt. »Scotland Yard? Womit kann ich dienen? Allerdings habe ich eine Besprechung ... in« - er warf einen Blick auf seine Uhr - »zehn Minuten. Also fassen Sie sich bitte kurz.«
»Es ist wegen Ihrer ehemaligen Schwägerin, Annabelle Hammond«, fuhr Kincaid fort und rückte einen Besucherstuhl für Gemma zurecht. Lowell war weder aufgestanden und hatte ihnen eine Sitzgelegenheit angeboten, noch reagierte er auf Kincaids Bemerkung. »Hat sich die Anwältin der Hammonds schon mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«
»Ja, heute morgen. Aber ich verstehe nicht ganz, was Sie das angeht.«
»Ach nein?« Kincaid zog die Augenbrauen hoch. »Ein Mord in Verbindung mit einer unverhofften Erbschaft verdient durchaus unser Interesse, Mr. Lowell.«
Martin Lowell lächelte zum ersten Mal. »Wollen Sie damit andeuten, ich hätte Annabelle umgebracht? Wegen der Firmenanteile für meine Kinder? Superintendent ... Wie war doch gleich Ihr Name? Sie müssen verdammt verzweifelt sein, wenn Sie nach jedem Strohhalm greifen.«
Kincaid war sicher, daß Lowell sich seines Namens sehr wohl erinnerte. »Das haben Sie gesagt, Mr. Lowell.« Er erwiderte das Lächeln. »Die Frage ist lediglich, ob Sie von Annabelle Hammonds Verfügung gewußt haben.«
»Bis zum Anruf der Anwältin heute morgen hatte ich keine Ahnung davon. Ich war sogar ziemlich überrascht. Allerdings bin ich schon neugierig, weshalb Sie es ungewöhnlich finden, daß Annabelle ihre Anteile ihrer einzigen Nichte und ihrem einzigen Neffen hinterlassen hat.«
»Seltsam erscheint mir daran nur die Tatsache, daß sie Sie als Treuhänder eingesetzt hat. Immerhin sind Sie von Annabelles Schwester schon länger geschieden.«
Lowell zuckte die Achseln. »Nach Auskunft der Anwältin hat sie das Testament kurz nach dem Tod ihrer Mutter gemacht und ist nie dazu gekommen, es später zu ändern. Vielleicht hielt sie mich auch als Treuhänder des Vermögens unserer Kinder für geeigneter als Jo.«
»Haben Sie vor, eine aktive Rolle in der Firmenpolitik zu spielen, Mr. Lowell?« fragte Gemma.
Martin Lowell musterte Gemma unverhohlen abschätzend. Kincaid beobachtete, wie Gemma unter seinem Blick rot wurde.
»Alles andere wäre doch wohl unverantwortlich. Finden Sie nicht auch, Sergeant?« Lowell lächelte, hielt ihren
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