Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
in ihrer Nähe zu sein?« fragte Kincaid.
Ian schüttelte den Kopf. »Nein, so blöd bin ich nicht. Auch wenn Sie’s mir nicht glauben. Aber meine Beurlaubung geht nach dem Sommer zu Ende. Und mit meinem Buch stecke ich in einer Sackgasse. Insofern hatte es keinen Sinn mehr, weiter in Frankreich zu bleiben ...«
Kincaid wartete schweigend.
»Wie geht es ihm? Kit, meine ich. Kommt er... zurecht? Was ist mit der Schule?«
Kincaid dachte an jene ersten Wochen, als Laura Kit jeden Morgen weinend an Tess geklammert in seinem Zimmer vorgefunden hatte. Der Junge hatte Angst gehabt, die Hündin auch nur während der Schulstunden allein zu lassen, und war überzeugt gewesen, daß ihr während seiner Abwesenheit etwas zustoßen würde.
»Er hat das Schuljahr geschafft. Die Schule hat sich sehr bemüht, ihm ein gewisses Gefühl von Normalität zu geben. Soweit das unter den Umständen möglich war, versteht sich.
Aber das sind nur die Äußerlichkeiten. Wie’s wirklich in ihm aussieht, weiß ich nicht. Er hat Alpträume und Eßstörungen, aber das hat sich in letzter Zeit gebessert.« Kincaid hielt inne. »Außerdem will er nicht über seine Mutter sprechen. Nicht mal mit Hazel Cavendish, die normalerweise sogar einen Stein erweichen kann.«
»Was ist mit dem Prozeß? Hat sich da was getan?«
»Die Staatsanwaltschaft sondiert noch immer die Beweislage. Ein Termin wurde noch nicht festgesetzt.«
»Und damit ist keine Lösung für Kit in Sicht«, murmelte Ian. »Ist ihr Mörder ...«
»Genießt die Gastfreundschaft der Königin, in Untersuchungshaft. Das zumindest ist schon mal was.« Kincaid verscheuchte eine Wespe, die sich auf dem Rand seines Bierglases niedergelassen hatte. Die Abenddämmerung hatte sich über den Garten gesenkt und brachte eine Abkühlung. Die Bedienung kam, zündete eine Zitronenkerze auf dem Tisch an und schenkte ihnen ein breites Lächeln. Sie trug ein Oberteil mit Spaghettiträgern und Shorts, die kaum länger waren als ihre Schürze, und Kincaid bemerkte, daß Ian ihr einen bewundernden Blick zuwarf. McClellan mochte aus seiner letzten Affäre gelernt haben, doch alte Gewohnheiten saßen tief.
»Da ist noch etwas«, sagte Kincaid. »Wir beide sind im Augenblick bei Kit in Ungnade gefallen.«
»Wir beide? Ich weiß, er hat guten Grund, auf mich wütend zu sein. Aber warum auf Sie?«
Da Kincaid einmal damit angefangen hatte, gab es kein Zurück mehr. »Ich habe ihm gesagt, daß ich mit großer Sicherheit sein Vater bin. Das war gestern abend, um genau zu sein.«
»Sie haben’s ihm gesagt?« wiederholte McClellan verdutzt. »Sie haben mich doch bekniet, nicht mit ihm darüber zu sprechen. Ihm Zeit zu geben ...«
»Ich dachte, die Zeit sei gekommen. Außerdem muß sich an seinen Lebensumständen was ändern ... er kann schließlich nicht ewig bei den Millers bleiben.«
Ian schob seine Brille hoch, was, wie Kincaid sich erinnerte, ein Zeichen von Erregung war. »Und wie hat er’s aufgenommen?«
Kincaid schob den Teller mit dem kalt gewordenen Hühnchen beiseite. »Er will mir nicht glauben. Fühlt sich betrogen. Und jetzt kreuzen Sie plötzlich auf. Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Eugenia hat mir Drohbriefe geschickt. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«
»Und womit hat sie gedroht? Der Welt noch mehr Schwierigkeiten zu machen?« Nach Vics Tod waren Kincaids Begegnungen mit seiner ehemaligen Schwiegermutter ausgesprochen feindselig verlaufen, und es gab keine Anzeichen, daß das je anders werden würde. Kit war lieber davongelaufen, als bei der Großmutter zu bleiben, und Eugenia verzieh Kincaid nie, welche Rolle er bei der Sache gespielt hatte. Sie betrachtete Kit als ihr Eigentum.
»Sehr konkret ist sie nicht gewesen.« Ian lächelte humorlos. »Zuerst wollte sie die Besuchsrechte der Großeltern einklagen. Später fing sie an, mich wegen Vernachlässigung meiner Vaterpflichten anzugreifen und wollte selbst das Sorgerecht für Kit erwirken.«
»Großer Gott!« Allein der Gedanke war für Kincaid unerträglich.
»Ich glaube nicht, daß sie damit durchkommt... was das Sorgerecht betrifft, meine ich. Aber ein Besuchsrecht könnte sie erwirken. Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen.«
Die wenigen Pommes, die Kincaid gegessen hatte, lagen wie Blei in seinem Magen. »Kit ist davongelaufen, als er das letzte Mal gezwungen wurde, bei der Großmutter zu bleiben ... das darf nicht wieder
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