Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Person war.«
»Erzählen Sie uns mehr über sie«, bat Gemma. »Was war sie für ein Mensch?«
Als Lewis Finch Gemma ansah, fiel ihr auf, daß er dieselben klaren grauen Augen hatte wie sein Sohn. »Annabelle hatte ein Talent, alles zu bekommen, was sie wollte - manchmal auch ohne Rücksicht auf andere -, und sie verfügte über die seltene Gabe, immer genau zu wissen, was sie wollte, zumindest in beruflicher Hinsicht. Davon abgesehen war sie intelligent, mutig ... unglaublich egozentrisch, und in mancherlei Hinsicht erstaunlich loyal.«
»Ist das ein Widerspruch?« fiel Gemma ein.
Finch nickte. »Zwangsläufig, ja.«
»War Ihnen klar, daß sie verlobt war und heiraten wollte?« fragte Kincaid. »Insofern erscheint mir Annabelles Verhältnis mit Ihnen nicht gerade der Ausdruck von erstaunlicher Loyalität zu sein.«
Finch runzelte die Stirn. »Vielleicht war es eine Art von Loyalität, die nicht unbedingt normalen Maßstäben genügte. Aber nach meiner Erfahrung rechtfertigen sich die meisten Menschen, die außerhalb einer verpflichtenden Beziehung ihr Vergnügen suchen, meist damit, daß sie die Unzulänglichkeiten des jeweiligen betrogenen Partners beklagen. Annabelle hat das nie getan.«
»Mr. Finch«, tastete Gemma sich weiter vor, »wußten Sie, daß Annabelle ebenfalls ein Verhältnis mit Ihrem Sohn hatte?«
Finch starrte sie an. »Mit Gordon? Nein, das wußte ich nicht.«
»Annabelle Hammond scheint, offengestanden, von Ihrer Familie geradezu fasziniert gewesen zu sein. Haben Sie eine Ahnung, weshalb?«
»Nein. Sie hat nie etwas gesagt, das mir diesen Eindruck vermittelt hätte?«
»Dann hat sie Ihnen auch nicht gesagt, daß sie von Ihrer Verbindung zu ihrem Vater wußte?«
»Wovon reden Sie überhaupt, Superintendent?« Finchs Stimme klang neutral, doch Gemma fühlte, daß sich eine knisternde Spannung im Raum aufbaute.
»Annabelle wußte, daß Sie und William Hammond während des Krieges gemeinsam evakuiert gewesen waren.«
Finch blinzelte. »Ja, das stimmt. Aber seither hatten wir kaum Kontakt.«
»Wir glauben, daß William Hammond Annabelle vor Ihnen gewarnt hatte ... Sie nahm an, der Grund sei eine Art Fehde zwischen Ihnen beiden. Ist da was dran?«
»Selbstverständlich nicht. Und ich bin sicher, Annabelle hätte mit mir darüber gesprochen, wenn sie so was angenommen hätte.« Er überlegte. »Ich hatte durch Annabelle den Eindruck, daß William ein bißchen ... kauzig geworden ist seit dem Tod seiner Frau. Vielleicht hat sein Realitätssinn gelitten.«
»Als wir mit ihm gesprochen haben, machte er einen völlig klaren Eindruck. Er hat uns gegenüber angedeutet, Sie hätten die während des Krieges geknüpften Beziehungen schamlos zu Ihrem Vorteil eingesetzt, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein.«
»So, sagte er das?«
»Stimmt es denn nicht?«
Einen Moment dachte Gemma, Lewis würde nicht antworten. Dann erwiderte er hastig: »Edwina Burne-Jones war eine liebenswerte und großzügige Frau, die mich, den armen Jungen aus dem East End, bei sich aufgenommen und so behandelt hat, als sei er in der Lage, alles zu erreichen, was er erreichen wollte ... doch die Dankbarkeit, die ich ihr gegenüber empfinde, geht niemanden etwas an. Nicht William Hammond und auch nicht Sie, Superintendent. Ist das jetzt alles?«
»Noch eine Frage, Mr. Finch. Wann haben Sie Annabelle zum letzten Mal gesehen?«
»Wir haben vor ein paar Wochen zusammen zu Abend gegessen. Das genaue Datum kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte er, ohne Kincaid aus den Augen zu lassen. Gemma war sicher, daß er wußte, was kommen würde. Er war viel zu intelligent, um nicht zu erraten, daß sie Annabelles Anrufbeantworter abgehört hatten.
Kincaid schien einen Moment zu überlegen. »Was Sie uns gesagt haben, scheint zu bedeuten, daß Ihre Beziehung zu Annabelle eher zwanglos, geradezu zufälliger Natur gewesen ist. Und doch geht aus der Nachricht, die Sie Freitag abend auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen haben, hervor, daß Sie ausgesprochen wütend auf sie gewesen sind, weil sie nicht zu erreichen war. Weshalb?«
»Das mißdeuten Sie, Superintendent. Ich habe nie behauptet, daß unsere Beziehung zufällig gewesen ist. Sie war lediglich keiner Regelmäßigkeit unterworfen. Annabelle konnte gelegentlich schwierig sein, aber sie war ... einmalig. Ich habe vor ihr nur eine Frau gekannt, die so bedingungslos dem Leben zugetan
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