Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
anzusehen. »Nein, das ist ... privat«, brachte er schließlich heraus und steckte sein Notizbuch ein.
Was, zum Teufel, suchte Ian McClellan plötzlich in England, und was wollte er von ihm?
In seiner Wohnung tauschte Kincaid die Bürokleidung gegen Jeans und T-Shirt und versuchte, Kit in Cambridge anzurufen. Laura Miller bat ihn, einen Moment zu warten, meldete sich jedoch kurz darauf selbst wieder und erklärte bedauernd, daß Kit im Augenblick nicht ans Telefon kommen wolle. Kincaid hörte die Besorgnis in ihrer Stimme, bedankte sich jedoch und sagte, er wolle es später noch einmal versuchen.
Kincaid sah durch die geöffnete Balkontür, als er auflegte, und entdeckte Sid, der auf dem Geländer kauerte und die Vögel im Garten des Majors mit gespanntem Interesse beobachtete. Er trat auf den Balkon hinaus, streichelte die Katze und fand kurzen Trost in der Tatsache, daß sie, anders als Kit, ihm stets verzieh, gleichgültig, wie sehr er sie vernachlässigte.
Schließlich wählte Kincaid für seine Begegnung mit Ian McClellan vertrautes Territorium, nämlich das Freemason’s Arms an der Willow Road in Hampstead Heath. Die Sommersonne sandte ihre langen, schrägen Strahlen durch die Baumkronen, und in Hampstead Heath wimmelte es von Londonern, die ihren von der Tageshitze stickigen Wohnungen entflohen waren. Die Leute schoben Kinder in Sportwagen, spielten Frisbee und Fußball, ließen Modellboote auf dem Teich fahren ... und jeder Junge mit einem Hund erinnerte Kincaid an Kit.
Als er das Lokal erreichte, wählte er einen Tisch im Garten. Er war früh genug gekommen, um noch etwas zu essen, doch als die Bedienung sein Hähnchen brachte, merkte er, daß ihm der Appetit vergangen war. Er nippte an seinem Bier, stocherte lustlos im Essen und dachte über Ian McClellan nach.
Vics zweiter Ehemann, ein Professor für Politikwissenschaften am Trinity College, hatte sich im Vorjahr mit einer seiner Examensstudentinnen nach Südfrankreich abgesetzt. Nach Vics Ermordung war McClellan kurzzeitig nach England zurückgekehrt, hatte sich allerdings geweigert, Kit mit nach Frankreich zu nehmen. Zwar hatte er zugegeben, seit längerem zu argwöhnen, daß Kit eigentlich Kincaids Sohn sei, blieb jedoch dessen ungeachtet der rechtmäßige Erziehungsberechtigte des Jungen. Wenn auch zähneknirschend, so hatte er letztendlich doch Kincaids Vorschlag akzeptiert, Kit vorübergehend bei der Familie Miller unterzubringen. Danach hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Bis jetzt.
Kincaid blickte auf und sah McClellan, der über die Wiese auf ihn zukam, ein Glas Bier in der Hand. Er war braungebrannt und schlanker, als Kincaid ihn in Erinnerung hatte. Bei näherem Hinsehen entdeckte Kincaid in seinem braunen Haar und Bart etliche graue Strähnen. Es war das erste Mal, daß Kincaid den Mann ohne sein übliches Kordjackett mit Lederflecken an den Ellbogen sah, aber selbst im kurzärmeligen Popelinehemd hatte er eine eindeutig professorale Ausstrahlung.
Kincaid stand auf, um ihn zu begrüßen. Er war entschlossen, der Begegnung einen besseren Start zu verschaffen als bei den vorangegangenen Gelegenheiten.
Die beiden Männer standen sich einen Moment verlegen gegenüber, dann schüttelte McClellan fest Kincaids Hand und setzte sich auf den weißen Gartenstuhl. Nachdem er sich zurückgelehnt und Kincaid zugeprostet hatte, brach er die gespannte Stille als erster. »Schätze, Sie wundern sich, weshalb ich um dieses Treffen gebeten habe.«
Kincaid nickte und trank einen Schluck Bier. »Kam offengestanden ziemlich überraschend für mich.«
»Tja, also ... Unter anderem bin ich Ihnen wohl eine Entschuldigung schuldig«, erklärte Ian bedächtig. »Ich hatte in den vergangenen Monaten viel Zeit zum Nachdenken, und ich sehe jetzt ein, daß mein Benehmen einigermaßen ... unvernünftig war. Und unverantwortlich. Die ganze Geschichte mit Jennifer ... dann Vic, und die Begegnung mit Ihnen unter den gegebenen Umständen ...« Sonnenlicht glitzerte auf Ians goldenem Brillengestell, als er kurz den Blick abwandte. »Nach meiner Rückkehr nach Frankreich hat es mit Jennifer nicht mehr funktioniert. Um ehrlich zu sein, bin ich völlig ausgeflippt.« Er zuckte die Schultern und fügte hinzu: »War nicht ganz das, was sie sich vorgestellt hatte. Ein Mann mittleren Alters mitten in einer Lebenskrise. Sie ist nach England zurück, um ihr Studium zu beenden.«
»Sind Sie deshalb auch wieder hier? Um
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