Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
schweren, senffarbenen Vorhänge waren gegen die Nachmittagssonne zur Hälfte zugezogen.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Ihre Ehe wegen Ihrer Affäre mit Annabelle gescheitert ist?« fragte Kincaid und ging im Zimmer umher. Er berührte die Zeitschriften, betrachtete prüfend den Fernsehapparat. Neben dem Sofa blieb er einen Augenblick stehen, als spiele er mit dem Gedanken, sich zu setzen, ging dann jedoch weiter.
Martin beobachtete ihn verunsichert, bot seinen Besuchern jedoch keine Sitzgelegenheit an. »Dazu gab es keine Veranlassung. Schließlich hatte ich Annabelle seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Nicht, seit sie sich von Ihnen getrennt hatte, oder?« Kincaid hielt inne und spähte in eine winzige Küche.
»Das ist richtig. Hat Jo Ihnen das erzählt?«
»Spielt das eine Rolle?« wollte Gemma wissen. »Hatten Sie erwartet, daß sie Sie deckt?«
Er lächelte bitter. »Wie ich sehe, haben Sie den Hammond-Schwestern ihre Märchen kritiklos abgekauft, und jetzt bin ich der Bösewicht vom Dienst.«
»Dann stimmt es also nicht?«
»Daß ich mit Annabelle geschlafen habe? Oh, das ist wahr. Aber es wäre alles in Ordnung gewesen, wenn Annabelle es nicht Jo gesagt hätte.«
Gemma starrte ihn fasziniert und angewidert zugleich an. Sie fragte sich, unter welchen Umständen die Affäre mit der eigenen Schwägerin wohl je »in Ordnung« gewesen sein könnte.
»Ich schätze, Jo hat Ihnen gesagt, Annabelle habe nur versucht, etwas wiedergutzumachen? Sich für einen Fehler zu entschuldigen? Selbstgerechter Blödsinn«, fuhr Martin fort. »In Wahrheit hat Annabelle gern intrigiert, sich in anderer Leute Angelegenheiten gemischt. Sie hat Männer abgelegt wie alte Klamotten. Und wenn sie keine Verwendung mehr für einen hatte, hat sie sein Leben genußvoll in Stücke gerissen.«
»Soll das heißen, daß Annabelle mit Ihnen Schluß gemacht hat, bevor sie es Jo erzählt hat?«
»Sie hatte ein Auge auf Peter Mortimers Sohn geworfen ... war, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, für ein unternehmungslustiges Mädchen wesentlich vorteilhafter. Schätze, sie dachte, die Verbindung würde ihr in ihrer neuen Position als Geschäftsführerin der Firma gut zu Gesicht stehen.«
»Vielleicht mochte sie ihn wirklich«, warf Gemma ein. »Oder fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl. Schließlich waren die beiden seit ihrer Kindheit befreundet.«
»Falls Sie denken, Annabelle habe irgend etwas ohne egoistischen Grund getan, sind Sie genauso dämlich wie die anderen armen Schweine, die sie für ihre Zwecke benutzt hat«, sagte Martin verächtlich. »Reg Mortimer tut mir sogar ein bißchen leid ... aber nicht leid genug.«
»Wie können Sie nur so verdammt dickfellig sein?« Gemma fühlte, wie ihr verräterische Röte ins Gesicht stieg, doch es war ihr gleichgültig. »Sie haben mit dieser Frau geschlafen. Sie war die Schwester Ihrer Frau. Sie hat Ihre Kinder geliebt. Empfinden Sie denn gar nichts für sie?«
Einen Moment sah es so aus, als würde er heftig kontern, doch dann sagte er unerwartet sanft: »Sie haben keine Ahnung, wie es war, sie zu lieben ... nur um dann ohne die Spur von Bedauern weggeworfen zu werden wie ein alter Schuh. Und dann steht man da und hat sein Zuhause und seine Kinder verloren.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich an Ihrer Stelle, Sergeant, würde mir Leute genau ansehen, die Kontakt zu Annabelle hatten. Da gibt’s viele wie mich, das garantiere ich. Viele, deren Leben sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zerstört hat. Glauben Sie, Mortimer hat sie getötet?«
»Mich interessiert mehr, wo Sie am vergangenen Freitag abend gewesen sind, Mr. Lowell«, entgegnete Gemma mühsam beherrscht. »Annabelle hätte guten Grund gehabt, Ihnen einen Besuch abzustatten. Sie hatte nämlich erfahren, welches Gift Sie Ihrem Sohn eingeimpft haben. Ist sie zu einer Aussprache hiergewesen?«
»Ich habe doch schon gesagt, daß ich sie Jahre nicht gesehen habe. Es gab eine Zeit - unmittelbar nach dem Bruch -, aber sie wollte mich nicht sehen, und hat meine Anrufe ignoriert.«
»Dann ist da noch die Kleinigkeit wegen der Firmenanteile«, warf Kincaid ein. »Annabelle muß ihr Testament vor der Affäre mit Ihnen gemacht haben. Hat sie Ihnen vielleicht gesagt, daß sie es nie geändert hat, aber jetzt darüber nachdenke? Das Geld kommt Ihnen doch nicht ungelegen, oder?« Er machte eine Geste, die die Wohnung einschloß.
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