Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
bei Adam Lamb ein-legen?« fragte sie hastig. »Ihn fragen, ob er mich wenigstens ein paar Minuten anhört?«
Nathan lachte. »Großer Gott, ist das alles? Ich dachte, du würdest mich um etwas ganz Unmögliches bitten. Natürlich kann ich nicht garantieren, daß Adam auf mich hört, aber ich will’s versuchen.«
Vic lächelte dankbar. »Und es macht dir nichts aus, über Lydia zu sprechen?«
»Es geht nicht darum, daß es mir etwas ausmacht, es ist nur alles so lange her. Du hast dich in einer Weise in Lydias Leben vertieft, wie ich es nie getan habe. Und für dich ist das die Gegenwart, für mich Vergangenheit. Aber du kannst mich alles fragen, und ich bemühe mich redlich zu antworten.« Er widerstand dem Impuls, ihre Wange zu berühren. Er hatte doch wirklich nichts gesagt, was die Intensität ihres Ausdrucks gerechtfertigt hätte?
»Nathan.« Vic holte tief Luft und ließ die Arme sinken. »Schlaf mit mir.«
»Wie bitte?«
»Du hast mich gehört. Das hat nichts mit Lydia oder Ian oder sonst wem zu tun. Es ist nur etwas zwischen mir und dir. Willst du es nicht?«
Sie hatte also Whisky getrunken, um sich Mut zu machen, ihn zu verführen, und die ganze Zeit hatte er wie ein Idiot um den heißen Brei herumgeredet und versucht, nicht zuviel aus ihrem Verhalten herauszulesen. »Natürlich will ich. Aber ich dachte nicht ... und ich bin alt genug, um ...«
»Sag jetzt bloß nicht, du seist alt genug, um mein Vater zu sein. Das ist absurd. Es sei denn, du wärst sehr frühreif gewesen. Und überhaupt? Was macht es schon?«
»Aber es ist ...« Seine Zunge brachte die Worte seit Jeans Tod nicht heraus. Er schluckte und sagte statt dessen »so lange her«. Aber Vic lachte jetzt, und er verstummte.
»Es ist wie mit dem Fahrradfahren, Nathan«, brachte sie schließlich lachend heraus. »Man verlernt es nie.«
Ihr Lachen erstarb so schnell, wie es gekommen war. Er berührte ihre Wange, und als sie ihr Gesicht in seine Hand legte, fühlte er, wie sie zitterte.
»Nein«, sagte er und fuhr die Linie ihres Kinns mit seinen Fingern nach, dann ihren Mundwinkel. »Ich glaube, es fällt mir alles sehr, sehr schnell wieder ein.«
* 5
Ist es die Stunde? Verlassen wir nun diesen Ruheplatz, den wir einander wohl bereitet, jetzt eine letzte, heftige Umarmung; und dann der lange Weg, den nicht dein Lächeln mehr erhellt.
Ach! Der lange Weg, und du so weit von mir!
Oh, ich werde nichts vergessen! Doch - jeder lange Tag läßt deine roten Lippen mehr und mehr verblassen, jede Meile dämpft den süßen Schmerz der Erinnerung an dein Gesicht.
Rupert Brooke aus >Die Wanderer<
Morgan Ashby fuhr seinen alten Volvo in die Auffahrt des Hauses an der Grange Road. Es war gerade noch hell genug, um zu erkennen, daß die Hecke geschnitten werden mußte. Die Nachbarhäuser ringsum waren erleuchtet. Kein Lichtschein drang durch das Oberlicht der Tür von Nummer 53.
Die Tür des Volvo knarrte, als er sie aufstieß, und beim Aussteigen fühlte er eine vergleichbare Steifheit in seinen Knien. Rheuma? Alterswehwehchen schon in den Jahren, die er so hartnäckig als die besten im Leben eines Mannes bezeichnete? Schon möglich, dachte er. Aber er kannte die Wahrheit. Es war die Angst.
Die Erbschaft dieses Hauses war Lydias letzter übler Scherz gewesen, noch aus dem Grab, und er hatte mitgespielt. Mochte Gott ihre Seele verrotten lassen. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und fummelte im Halbdunkel der Veranda am Schloß herum. Er hätte das Haus verkaufen sollen. Er hatte gewußt, daß er es hätte verkaufen sollen, sobald die Tinte auf der Nachlaßurkunde getrocknet war. Francesca hatte ihn an-gefleht, es zu verkaufen, die letzten Bande zu durchtrennen, und doch hatte irgendein perverses Gefühl ihn daran festhalten lassen. Hatte er geglaubt, aus dem nagenden Unbehagen könne noch etwas Positives entstehen, wie eine Perle guten Charakters, die sich bisher verborgen hatte? Er schnaubte verächtlich in die Dunkelheit, und der Sicherheitsriegel klappte auf.
Schließlich hatte er es an einen Arzt mit Frau und einer Schar lauter Kinder vermietet. Sie hatten es fünf Jahre bewohnt, ihn wenig belästigt, nur gelegentlich um die Reparatur eines Rohrs oder des Dachs gebeten und es in der vergangenen Woche, nachdem sich ihre Finanzlage gebessert hatte, wieder verlassen.
Er tastete nach dem Lichtschalter hinter der Tür und blinzelte in die aufflammende
Weitere Kostenlose Bücher