Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
hatte.«
»Weiter, bitte.«
»Ich weiß nicht, was an jenem Abend in mich gefahren ist. Eifersucht habe ich immer verachtet, habe sie für unkultiviert gehalten. Aber Annabelle hatte mich seit Monaten zurückgestoßen, sich geweigert, über die Hochzeit zu reden, Ausreden erfunden, um nicht mit mir allein sein zu müssen ... und plötzlich machte das alles Sinn. Ich habe ihr alles mögliche an den Kopf geworfen ... alles, was mir gerade in den Sinn kam. Und plötzlich sind mir Lewis Finch und die vielen >Geschäftsbesprechungen< eingefallen, die sie angeblich mit ihm gehabt hatte. Ich habe ihr vorgeworfen, mit ihm zu schlafen. Ich habe behauptet, daß Lowell recht habe und sie nicht besser als eine Hure sei. Sie prostituiere sich ... schlafe mit Finch, um zu bekommen, was sie wolle.«
»Und dann?« fragte Gemma leise.
»Sie hat gelacht. Sie hat einfach dagestanden und mich ausgelacht. Sie hat gesagt, das sei längst nicht alles. Diese Affäre habe sie die Liebe von Finchs Sohn gekostet, und daß sie erst zu spät erfahren habe, was es bedeute, jemanden wirklich zu lieben. Ich habe sie angeschrien, es hat sie mehr als das gekostet, und es geschehe ihr recht - und dann habe ich ihr gesagt, was Lewis wirklich vorhatte. Kaum hatte ich es ausgesprochen, war mir klar, daß ich zu weit gegangen war und alles verdorben hatte. Ich habe mich entschuldigt, es nicht so gemeint zu haben. Wir hatten am folgenden Vormittag eine Verabredung mit meinem Vater, um ihm den Plan schmackhaft zu machen. Und eigentlich hätten wir nach der Dinnerparty mit Jo unsere Strategie festlegen wollen. Ich dachte, wir könnten alles wieder ins Lot bringen, aber Annabelle war sehr still geworden ... so als horche sie in sich hinein, dann hat sie wieder gelacht. >Die Götter haben mir ein Zeichen gegeben, Reg. Also verpiß dich!< Ich habe gebettelt, versucht, zu diskutieren, bis sie sich schließlich einverstanden erklärte, sich mit mir im Pub zu treffen.«
»Und danach sind Sie gegangen«, sagte Gemma.
»Ja. Und die furchtbare Ironie ist, daß ich keine Ahnung hatte - bis Sie es mir gesagt haben -, daß Lewis Finchs Sohn der Straßenmusikant aus dem Tunnel ist.«
Lewis begegnete Irene Burne-Jones zum ersten Mal an einem Juliabend des Jahres 1942, als Edwina ihn mit dem Ponywagen zum Bahnhof schickte, um sie abzuholen. Irene sei eigentlich ihre Cousine zweiten Grades, hatte Edwina ihm erklärt, die Enkelin des Bruders ihres Vaters. Aber Edwina, die stets für Vereinfachung war, bezeichnete das Mädchen schlicht als ihre Nichte. Das Haus ihrer Familie in Kilburn war durch eine verirrte Bombe getroffen und zerstört worden, und Irene sollte solange auf dem Land bleiben, bis die Eltern das Leben der Familie neu organisiert hatten.
Lewis nahm die Nachricht mit einiger Sorge auf. William war nicht da. Nachdem die Bombardierungen nachgelassen hatten, war ihm erlaubt worden, für mehrere Wochen seine Eltern zu besuchen, und da Lewis seine Gesellschaft vermißte, war ihm einerseits ein Ersatz für den kurzen Zeitraum recht... andererseits konnte er sich nicht vorstellen, daß ein Mädchen, das sicher eine Vorliebe für Sommerspaziergänge, Badeausflüge und Beerenpflücken hatte, zu ihm paßte. Seine Kenntnisse über Mädchen gründeten sich auf die Erfahrungen mit seiner Schwester, und Cath hatte nie auch nur die geringste Neigung zu Dingen gezeigt, für die sich Jungen interessierten.
Bei seinem Besuch zu Hause im April hatte er seine Schwester kaum wiedererkannt. Es warsein erster Aufenthalt in London nach zwei Jahren gewesen. Cath hatte einen Job in einer Rüstungsfabrik, und sie hatte wie ein Wesen von einem anderen Stern auf ihn gewirkt, als sie in ihrem grellen Overall und Turban nach Hause gekommen war. Minuten später war sie in einer Parfümwolke und begleitet von dem Klappern hoher Absätze wieder verschwunden. Wann immer ihr Name gefallen war, hatten Lewis’ Eltern verstohlen Blicke getauscht, und ein- oder zweimal, als er ins Zimmer gekommen war, hatte Lewis das Gefühlgehabt, ein ernstes Gespräch zu unterbrechen.
Lewis jedoch hatten die Streifzüge in die unmittelbare Umgebung viel mehr interessiert. Er hatte versucht, sich an den Anblick von Schuttbergen oder leeren, vom Unkraut überwucherten Parzellen zu gewöhnen, wo früher die Häuser seiner Schulfreunde und Kameraden gestanden hatten. All das hatte eine seltsame Leere in ihm hinterlassen, und am Ende der Woche hatte er eine heimliche
Weitere Kostenlose Bücher