Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
der Pferdehufe war weit und breit nichts zu hören.
»Wie weit ist es bis zum Haus?« wollte Irene wissen, nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren.
»Ein paar Meilen. Wir brauchen ungefähr eine Dreiviertelstunde.« Lewis fiel plötzlich ein, wie lange ihm der Weg bei seiner Ankunft auf dem Land vorgekommen war und daß er sich eine Straße ohne Häuser oder Geschäfte gar nicht hatte vorstellen können.
»Sieht hier ganz anders aus als in Kilburn«, bemerkte Irene, und beim Klang ihrer Stimme sah er sie unwillkürlich genauer an. Er war sich nicht sicher, ob hinter der Maske der Fröhlichkeit nicht auch Angst lag.
»Es wird dir gefallen«, sagte er. »Ehrenwort.«
Lewis und Irene wurden so schnell Freunde, daß die ersten Wochen nach Williams Rückkehr beinahe peinlich waren. William war sehr selbstbewußt zurückgekommen, nachdem er die Ferien in der Firma seiner Familie verbracht hatte. Als Irene offenbar unbeeindruckt von Hammond’s Teas blieb, versuchte William, ihr höflich klarzumachen, daß sie in Lewis und seine Unternehmungen nicht einbezogen werden sollte. Irene jedoch tat einfach so, als merke sie nichts. Sie kam trotzdem mit, und nach einer Weile gab William resigniert auf. Bald schien er völlig vergessen zu haben, daß er versucht hatte, sie auszugrenzen.
Im August kehrte Mr. Cuddy von seinem langen Urlaub an der Küste Cornwalls zurück, und sie hatten wieder alle Hände voll mit Schularbeiten zu tun. Wann immer Mr. Cuddy und die Jungen bei ihren Schulthemen in eintönigen Alltagstrott verfallen waren, rüttelte Irene sie auf. Sie war von Mr. Cuddys kartographischer Aufarbeitung des Krieges fasziniert und hatte immer eine Frage oder einen Diskussionsbeitrag parat.
Ihr besonderes Interesse galt dem Krieg in Nordafrika, und Irene verfolgte den Kampf von Montgomerys Achter Division gegen Rommel mit ebensolchem patriotischen Eifer wie die Jungen, und das, obwohl sie John Pebbles nie begegnet war. Als die Tage kürzer wurden und der Herbst kam, verbrachten sie lange Nachmittage vor dem Kamin im Schulzimmer, Tassen mit heißer Schokolade in den Händen, und diskutierten über den Krieg und ihre Zukunft.
»Er ist vorbei, bevor wir alt genug sind, um Militärdienst leisten zu können«, klagte Lewis eines Tages, als strömender Regen sie ans Haus fesselte. »Nordafrika ist erst der Anfang. Jetzt, wo die Amis dabei sind, muß Europa als nächstes kommen. Der alte Hitler hat den Alliierten nichts mehr entgegenzusetzen.«
»Ja, aber ich weiß noch gut, wie alle gesagt haben, der Krieg sei in ein paar Wochen zu Ende.« William streckte sich auf dem Teppich aus, stützte das Kinn in die Hände und starrte ins Feuer, und Lewis wurde dabei klar, daß er sich William als Soldat wirklich nicht vorstellen konnte, selbst wenn der Krieg tatsächlich lange genug dauern sollte.
»Eine Niederlage kommt für euch wohl gar nicht in Betracht, was?« fragte Irene. Mit Edwinas Unterstützung hatte sie es sich angewöhnt, wie die Jungen Hosen zu tragen, und saß jetzt gegen einen alten Sessel gelehnt im Schneidersitz auf dem Boden. »Alle tun so, als hätten wir den Sieg praktisch schon in der Tasche. Aber was ist, wenn nicht?«
»Sei nicht blöd!« konterte William. »Selbstverständlich siegen wir. Warum also darüber nachdenken?«
Lewis jedoch hatte darüber nachgedacht. Viele Dinge, von denen er angenommen hatte, daß sie nie geschehen könnten ... zum Beispiel, daß ihr Haus bombardiert, seine beiden Brüder sterben würden ... waren geschehen. Also mußte er auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie den Krieg verloren.
»Natürlich hoffe ich, daß er bald zu Ende ist«, bemerkte Irene und starrte ins Feuer. »Aber wenn nicht, dann trete ich in die Armee ein, sobald ich alt genug bin, und werde General.«
»Jetzt spinnst du aber wirklich«, erklärte William. »Mädchen können nicht General werden.«
»Warum denn nicht?« Irene reckte eigensinnig das Kinn vor. »Ich spiele gern militärische Sandkastenspiele und so.«
»Aber das ist nur Spiel«, entgegnete Lewis und versuchte, vernünftig zu sein. »Im richtigen Leben müßtest du dich um Verwundete kümmern, Geheimdienstberichte analysieren ... und so weiter. Und du müßtest dauernd den Leuten sagen, was sie tun sollen.«
»Na und?« Irene streckte ihm die Zunge raus. »Das alles könnte ich genausogut wie du.«
Mr. Cuddy sah von dem Buch auf, das er gerade las.
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