Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
er Bescheid.
»Schätze, es war eine schreckliche Ironie des Schicksals«, sagte Irene. »Seine Eltern hatten soviel überlebt, und dann werden sie bei der ersten Angriffswelle der V-I getötet. Wenn ich mich recht erinnere, kamen sie gerade aus dem Laden an der Ecke ... eine Alltäglichkeit, an einem Junitag wie diesem.« Sie schüttelte den Kopf und zündete die nächste Zigarette an.
»Lewis hat William nicht erlaubt, zur Beerdigung zu kommen ... mir auch nicht. Aber Edwina hat darauf bestanden, ihn zu begleiten. Später hat er nie wieder darüber gesprochen. Über seine Eltern, meine ich. Bis auf einmal.«
Kincaid wartete stumm, während sie rauchte. Im klaren Licht erkannte er zwei scharfe Falten, die von ihrer Nase zu den Mundwinkeln verliefen ... Lachfalten, hatte seine Mutter sie immer genannt, aber er fand, daß Irenes Gesicht nicht nur die Spuren der lachenden Seite des Lebens trug.
»Er hat gesagt, wenn er dort gewesen wäre, wäre es vielleicht nicht passiert«, fuhr sie schließlich fort. »Er hätte die Rakete möglicherweise rechtzeitig gehört.«
»Und Sie haben sich selbst für seine Schuldgefühle verantwortlich gemacht, denn Sie hatten ihn überredet zu bleiben«, murmelte Kincaid. Er kannte sich aus mit Schuldgefühlen, mit dem erbarmungslosen Spiel »Was wäre gewesen, wenn?«, das das Unterbewußtsein mit einem spielte.
»Ja. Und ich habe versucht, ihn zu trösten.« Einen Moment schien Irene in der Erinnerung verloren. Schließlich fingen ihre blauen Augen seinen Blick auf. »Aber nichts konnte uns darauf vorbereiten, was danach passiert ist. Edwina und Freddie Haliburton, unser Hauslehrer, kamen kurz nach dem Tod von Lewis’ Eltern bei einem Autounfall ums Leben.« Sie drückte die halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Edwinas Tod ... das war ein harter Schlag für uns alle, aber ganz besonders für Lewis, der seine beiden Brüder und schließlich die Eltern im Krieg verloren hatte. Er ging nach Edwinas Beerdigung, und es gab nichts, womit ich ihn hätte zurückhalten können.«
»Das muß sehr hart für Sie gewesen sein.«
»Ich bin zu meiner Familie nach Kilburn zurückgekehrt ... Bomben oder nicht. Aber wir haben ohne weiteren Zwischenfall bis Kriegsende überlebt.«
»Und William Hammond?«
»William ging nach Hause nach Greenwich. Ich bekam gelegentlich einen Brief und schließlich nur noch eine Karte zu Weihnachten.«
»Und von Lewis haben Sie nie wieder gehört?«
Irene lächelte spöttisch in sich hinein. »Jahrelang habe ich mir vorgestellt, daß er mich eines Tages finden würde. Dann begann in den Sechzigern sein Name in der Zeitung aufzutauchen, und ich habe Nachforschungen angestellt. Er muß falsche Angaben bezüglich seines Alters gemacht haben, denn er ist noch in den letzten Kriegsjahren eine kurze Zeit lang Soldat gewesen. Als er Ende 1945 aus der Armee entlassen wurde, hat er sich einem Wiederaufbautrupp angeschlossen und sich im Baugewerbe hochgearbeitet. Nach dem Krieg gab es ungeahnte Möglichkeiten für Menschen mit Intelligenz und der Gabe, Chancen zu ergreifen, die sich boten ... und Lewis Finch besaß beides.«
»Aber Sie haben nie Kontakt zu ihm aufgenommen?«
»Nein. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, aber ich hatte erfahren, daß er verheiratet war. Und masochistische Neigungen kann man mir wirklich nicht nachsagen«, fügte sie lächelnd hinzu.
Kincaid dachte einen Moment nach. »William Hammonds ältere Tochter hat uns gesagt, daß ihr Vater sie und Annabelle vor Lewis Finch gewarnt habe. Können Sie sich vorstellen, weshalb?«
»Nein, kann ich nicht«, erwiderte Irene, aber Kincaid glaubte Zweifel herauszuhören. Sie stand auf, trat an ihren Schreibtisch und ordnete geistesabwesend die Papiere, die sich dort stapelten. »Obwohl ich glaube, daß es in jenem letzten Sommer starke Spannungen zwischen den beiden Jungen gegeben hatte.«
»War William auf Sie und Lewis eifersüchtig?«
Irene runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob William je gemerkt hat, was zwischen mir und Lewis passiert war. Er hatte eigene Sorgen.« Kincaid wartete, daß sie fortfuhr. »Ich habe mir geschworen, nie eine dieser alten Jungfern zu werden, die ewig ihrer Jugend nachweinen«, sagte sie schließlich leise. »Aber es war eine Idylle ... in der wir in jenen eineinhalb Jahren alle zusammen gelebt haben. William und Lewis und ich, trotz der Entbehrungen und Kümmernisse des
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