Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Ohrläppchen und Handgelenke. »Mir geht’s großartig.« Tatsächlich war es Grace, die am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen sein würde. Dabei hatte Margery sie gedrängt, sich fürs Kochen und Servieren Hilfe zu besorgen. Margery warf einen letzten Blick in den dreiteiligen Spiegel und folgte Grace dann gehorsam die Treppe hinunter.
Ihre Dinnerpartys und Graces Kochkunst waren stadtbekannt. Doch obwohl Margery das Grace gegenüber nie zugegeben hätte, empfand auch sie diese Einladungen zunehmend als ermüdend. Es kostete sie immer mehr Anstrengung, ihre Schriftstellerei lange genug zu unterbrechen, um zumindest die fundamentalsten sozialen Kontakte zu pflegen. Romanfiguren waren einfacher zu manipulieren als Menschen aus Fleisch und Blut. Man hatte sie fest im Griff, obwohl es auch hier keine Garantie gab.
Vielleicht waren die Menschen ja gar nicht schuld, vielleicht lag es daran, daß sie mit ihrer Zeit immer mehr geizte, spürte, wie der Sand der Lebensuhr immer schneller durchs Glas rann, während sie noch so viel zu sagen hatte.
Die Klingel schlug an, als sie den unteren Treppenabsatz erreicht hatte. »Sehen Sie! Ich hab’s doch gewußt«, bemerkte Grace mit einem Lächeln.
Es war Darcy, früh wie immer, so daß er beim Empfang der Gäste und den Drinks helfen konnte. »Mutter, meine Liebe!« Er hielt inne, um sie zu küssen. »Du siehst göttlich aus!«
»Schmeichler«, wehrte sie lächelnd ab und berührte seine Wange. »Du bist ja eiskalt, Liebling. Komm an den Kamin, und schenk dir was ein, bevor die Massen anrollen.«
»Hatte eine verdammte Reifenpanne! Stell dir das mal vor!« stöhnte er und mixte sich einen Gin Tonic. Dann stellte er sich mit dem Rücken vor den Kamin. »Und mitten auf der Madingley Road bei starkem Verkehr. Ich bin naß wie ein Pudel und fange in deinem Wohnzimmer sicher bald an, wie einer zu stinken. Aber jetzt ist mir wenigstens von innen warm.« Er lächelte und leerte sein Glas mit einem Schluck zur Hälfte. »Wer kommt eigentlich? Wieso Massen?«
»Wir sind nur ein kleiner Kreis heute abend, fürchte ich«, antwortete Margery und schenkte sich einen Sherry ein. »Nur Ralph und Christine, und Iris. Enid hat in letzter Minute abgesagt. Sie hat Grippe. Oh, und Adam Lamb. Den hätte ich beinahe vergessen.«
Darcy lachte. »Wo um Himmels willen hast du denn den guten alten Adam ausgegraben?«
»In der Lebensmittelabteilung von Marks und Sparks. Bin ihm an der Gefriertruhe mit den Fertiggerichten in die Arme gelaufen. Er sah aus, als habe er seit Monaten nichts Anständiges gegessen. Da hat er mir leid getan.«
»Schätze, er hat entsprechend viele Bücklinge vor dir gemacht.«
»Darcy, das ist weder nett noch fair. Das weißt du. Er war sehr höflich und schien sich über die Einladung zu freuen. Daran ist nichts Anrüchiges.«
»Du siehst ihm alles nach, nur weil du mit seiner Mutter die Schulbank gedrückt hast«, entgegnete Darcy neckend. »Fehlt jetzt nur noch, daß du ihn als >netten Jungen< bezeichnest.«
Die Türglocke ertönte erneut. Margery erhob sich vom Sofa. »Ich kann sagen, was ich will. Aber du, mein Junge, solltest dich lieber zurückhalten.«
Enids Absage kam sehr gelegen, dachte Margery und ließ bei Tisch ihren Blick in die Runde ihrer Gäste schweifen. Zum einen waren sie eine gerade Zahl, und zum anderen empfand sie Enids Aufgeregtheiten immer als ermüdend. Sie hatte Adam neben Iris placiert, da sich die beiden kaum kannten, und Darcy neben Christine, so daß sie die Freiheit hatte, ausgiebig mit Ralph zu plaudern.
Adam präsentierte sich recht passabel. Die Ellbogen seines Tweedjacketts glänzten leicht, aber er trug ein gestärktes weißes Hemd und war frisch rasiert.
Darcy hatte natürlich recht. Sie hatte eine Schwäche für Adam - wegen seiner Mutter. Helen war eine alte Schulfreundin gewesen. Sie und ihr Mann hatten große Pläne mit Adam gehabt. Er sollte seinen Doktor in Geschichte machen, natürlich mit Auszeichnung, dann Jura studieren und später dem Vater in die Politik Folgen. Schon damals hatte Margery Zweifel gehabt, daß eine Projektion der eigenen Wünsche auf die Kinder ratsam war, und hatte hilflos Zusehen müssen, wie ihre Freunde herb enttäuscht wurden.
Es war Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet sie, die sich nicht so ins Zeug gelegt hatte, angenehm überrascht worden war. Darcy hatte sich nicht schlecht rausgemacht. Es war abzusehen, daß Iris
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