Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
schweigend und unruhig auf Iris’ Rückkehr. Was zum Teufel sagte man, falls dem Kater tatsächlich etwas zugestoßen war, überlegte Margery.
Aber als Iris wenige Minuten später ins Speisezimmer zurückkam, wirkte sie alles andere als hysterisch. Sie ging langsam zu ihrem Stuhl, blieb hinter der Lehne stehen und umfaßte diese mit beiden Händen. Wie seltsam, dachte Margery, die auf ihre scharfe Beobachtungsgabe stolz war. Die übergroßen Fingerknöchel der Freundin waren ihr bislang nie aufgefallen. Jetzt waren sie ganz weiß, so fest hielt sie das Holz umklammert.
»Es tut mir leid, dir, Margery, und auch allen anderen diesen schönen Abend verderben zu müssen. Ich habe leider eine schreckliche Nachricht. Vic McClellan ist heute nachmittag gestorben.«
** Teil II
»... Frauen wurden schriftliche oder mündliche Überlieferungen vorenthalten, durch die sie hätten Macht gewinnen können über ... ihr Leben.«
Carolyn Heilbrun aus >Darstellung eines Frauenlebens<
* 9
... Glaubst du an einen fernen Ort, irgendwo, Saum der Wüste, letzte Scholle, die wir kennen, die karge letzte Grenze unsres Lichts, wo wartend ich dich finde; und wir gemeinsam wandern, wieder Hand in Hand, hinaus in unbekannte Weiten, in die Nacht?
Rupert Brooke aus >Die Wanderer<
Kincaid warf den Rest seiner Büroarbeit in den Ablagekorb, sah auf seine Uhr und gähnte. Es war erst halb sechs. Der Montag galt gemeinhin als der längste Wochentag, aber dieser trostlose Dienstag hatte den Vortag an Langeweile weit übertroffen. Er war froh, nach Hause zu kommen.
Er mußte nur noch auf Gemma warten, die unterwegs war, um letzte Informationen in einem Fall zu sammeln, der so gut wie gelaufen war. Wenigstens hat sie das Glück, aus dem verdammten Büro rausgekommen zu sein, dachte er, schaukelte auf dem Stuhl und reckte sich. Das Telefon klingelte. Er griff faul nach dem Hörer und erwartete, Gemmas Stimme zu hören. »Kincaid«, meldete er sich und klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, um weiter den Schreibtisch aufzuräumen.
»Duncan? Alec Byrne hier.« Die Verbindung war schlecht, und die Lautstärke schwankte. »Tut mir leid - aber das Mobiltelefon ist nicht in Ordnung. Jetzt wird’s besser«, ertönte Byrnes Stimme klar und deutlich. »Hör zu, Duncan ...«
Er klang zögerlich, beinahe zaghaft. Amüsiert sagte Kincaid: »Was gibt’s, Alec? Hast du deine Meinung geändert? Was den Fall Lydia Brooke betrifft?«
»Nein, Duncan. Tut mir leid ... Aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«
Kincaid kippte mit dem Stuhl wieder in die Waagerechte. »Wovon redest du, Alec?« Er konnte sich nicht erinnern, daß Alec je einen Hang zu schlechten Witzen gehabt hatte.
»Ich bin zufällig in der Einsatzzentrale gewesen, als der Anruf kam, und bin gleich persönlich rausgefahren. Der Name kam mir bekannt vor. Hieß nicht deine Ex-Frau Victoria McClellan?«
Kincaid kannte diese Art der Formulierung nur zu gut. Sein Herz setzte plötzlich mehrere Schläge aus. »Was meinst du mit >hieß«
»Tja, Duncan. Sie ist tot. Die Ärzte tippen auf Herzinfarkt. Sie konnten nichts mehr für sie tun.«
Der Raum begann sich um Duncan zu drehen. Byrnes Stimme klang wie von weither. Erst allmählich erfaßte er den Sinn seiner Worte.
»Duncan, alles in Ordnung?«
»Das muß ein Irrtum sein, Alec«, brachte Kincaid schließlich gepreßt unter der Zentnerlast heraus, die plötzlich auf seiner Brust lastete. »Es muß sich um eine andere Victoria McClellan handeln ...«
»Eine Englischprofessorin, die in Grantchester lebt?« sagte Byrne mit zögernder Sicherheit. »Tut mir leid, mein Freund. So viele Zufälle gibt’s doch gar nicht. Kannst du mir sagen, wie wir ihren Mann erreichen ...«
Es war unmöglich. Byrne täuschte sich. Es muß eine dumme Verwechslung sein, dachte Kincaid. Und dann hörte er sich sagen: »Bin schon auf dem Weg.« Byrnes Stimme drang noch immer schwach aus dem Hörer, als Kincaid auflegte.
Während er im Korridor mit seinem Jackett kämpfte, stolperte er Chief Superintendent Childs in die Arme.
»Na, wollten Sie sich heimlich in die nächste Kneipe absetzen?« fragte Childs und richtete ihn an den Schultern wieder auf. Dann sah er Kincaids Miene. »Duncan, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie sind ja leichenblaß, Mann!«
Kincaid schüttelte den Kopf und entwand sich Childs’ Griff. »Ich muß
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