Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
los!«
»Warten Sie, Junge.« Childs bekam ihn erneut zu fassen. »Was ist los?« fragte er und baute sich vor dem benommenen Kincaid auf. »So kommen Sie mir nicht davon!«
»Es ist wegen Vic«, brachte Kincaid mühsam heraus. »Meine Frau ... Ex-Frau. Sie sagen, sie sei tot. Ich muß da sofort hin.«
»Wohin?« fragte Childs prompt.
»Cambridgeshire.«
»Wo ist Gemma? Sie sehen nicht aus, als seien Sie fahrtüchtig.«
»Schon in Ordnung«, sagte Kincaid, entwand sich erneut dem Griff seines Vorgesetzten und sprintete zum Lift.
Selbst in seinem Schockzustand war ihm klar, daß Childs recht hatte. Es war Unsinn, bei schlechtem Wetter mit dem Midget nach Cambridge zu rasen. Er nahm sich den erstbesten Wagen aus der Bereitschaft, einen neuen Rover mit starkem Motor.
Auf dem Weg nach Cambridge wiederholte er im Rhythmus der Reifen auf dem nassen Asphalt der Autobahn, was er nicht glauben wollte: Es kann nicht Vic sein. Vic kann nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein - sie ist zu jung. Es kann nicht Vic sein.
Eine kleine Stimme der Vernunft meldete sich aus dem Hintergrund seines Bewußtseins und erinnerte ihn daran, daß er und Vic fast vierzig, also nicht mehr ganz so jung waren. Einige Monate zuvor war die Frau eines Kollegen, jünger als Vic, plötzlich an einem Aneurysma, einer krankhaften Arterienerweiterung, gestorben.
Also gut, es kommt vor. Natürlich passiert so was. Aber nicht mir. Nicht Vic.
Sein Panzer begann zu bröckeln, als er die Ausfahrt Grantchester erreichte. Er umfaßte das Steuerrad fester, um das Zittern zu unterbinden, und versuchte, überhaupt nicht mehr zu denken.
Er sah das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, als er in die High Street einbog. Zwei Streifenwagen parkten am Straßenrand vor Vics Cottage, aber eine Ambulanz war nirgends zu sehen. Kincaid stellte den Rover in der Kieseinfahrt ab, wo er schon Sonntag geparkt hatte. Sonntag, dachte er. Am Sonntag war mit Vic noch alles in Ordnung gewesen.
Langsam stieg er jetzt aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Seine Knie waren wie Pudding, als er unsicher über den Kies ging, und er atmete tief ein und aus, um des Schwindelgefühls Herr zu werden. Die Haustür ging auf, und eine dunkle Gestalt zeichnete sich gegen das Licht im Flur ab. Vic? Nein, nicht Vic. Alec Byrnes Schritte knirschten auf dem Kies, als er auf ihn zukam.
Byrne berührte seinen Arm. »Duncan. Du hättest den weiten Weg nicht zu kommen brauchen. Wir haben alles im Griff.«
»Wo ist sie?«
»Sie haben sie schon ins Leichenschauhaus gebracht«, antwortete Byrne leise. Er musterte Kincaid prüfend. »Komm, wir machen dir jetzt erst mal ’ne Tasse Tee.«
Leichenschauhaus. Noch nicht. Er konnte den Gedanken noch nicht akzeptieren. Noch nicht.
Kincaid ließ sich ins Haus und ins Wohnzimmer führen, während der unbeteiligte Teil in ihm daran dachte, wie komisch es für ihn war, einmal der umsorgte Part in einem Fall zu sein. Byrne schob ihn sanft zum Sofa, ein weiblicher Constable brachte ihm heißen, süßen Tee. Er trank gehorsam und durstig. Dann, nach einigen Minuten, begann sein Denkvermögen wieder zu funktionieren.
»Was ist passiert?« fragte er Byrne. »Wo war sie? Bist du sicher, daß ...«
»Ihr Sohn hat sie in der Küche gefunden, als er vom Sport nach Hause kam. Bewußtlos, vielleicht auch schon tot - das wissen wir nicht sicher.«
»Kit?«
»Du kennst den Jungen?« fragte Byrne. »Wir konnten den Vater noch nicht erreichen, und es sollte jemand bei ihm sein, den er kennt.«
Kit, großer Gott! Er hatte nicht an Kit gedacht. Und Kit hatte sie gefunden. »Wo ist er?«
»In der Küche bei Constable Malley. Schätze, sie hat ihm auch Tee gekocht.«
»In der Küche?« wiederholte Kincaid, und alles, was er verdrängt hatte, war plötzlich wieder da. Lydia Brooke tot aufgefunden in ihrem Arbeitszimmer. Todesursache offenbar Herzversagen. Irgendeine schriftliche Nachricht, die auf Selbstmord gedeutet hätte, gab es nicht. Kerzen und Musik und Gartenkleidung. Er stand auf. »Was ist mit der Spurensicherung? Weshalb wird das Haus nicht gründlich untersucht?«
Byrne sah ihn skeptisch an. »Ich sehe keinen Grund dafür. Unter den Umständen ...«
»Du kennst die Umstände doch gar nicht!« schrie Kincaid ihn unvermittelt an und bemühte sich sofort, seine Stimme zu dämpfen. »Sie sollen nichts anfassen, bis wir den Obduktionsbefund haben. Der
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