Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
benutzen durfte.
Vic hatte einen Stapel Bücher in das Kopierzimmer getragen, um von einigen ausgewählten Gedichten bei ihrer Vorlesung über die Romantiker Handzettel verteilen zu können. Da sie einen Gedichtband vergessen hatte, war sie kurz in ihr Büro zurückgekehrt.
Als sie wiederkam, waren ihre Unterlagen beiseite geräumt, und Darcy stand am sanft brummenden Kopierer.
»Oh, tut mir leid! Waren das deine Bücher?« fragte er. »Du solltest deine Sachen wirklich nicht so herumliegen lassen. Wird viel geklaut heutzutage. Selbst die heiligen Hallen der Englischen Fakultät sind mittlerweile entweiht.«
»Du hast doch genau gewußt, daß das meine Unterlagen sind«, konterte sie verärgert. »Und kein vernünftiger Mensch klaut antiquarische Ausgaben von Keats und Shelley.« Sie warf einen Blick auf den Papierstapel im Einzugsschacht des Kopierers und stöhnte. »Kannst du mich nicht zwischendurch meine paar Seiten machen lassen, Darcy? Ich brauche sie für die Vorlesung morgen vormittag und habe in zehn Minuten ein Tutorengespräch. Immerhin bin ich zuerst dagewesen.«
Seine Gegenwart in dem kleinen Raum verursachte ihr Platzangst, und sein Atem roch nach dem Bier, das er vermutlich zum Mittagessen konsumiert hatte. Darcy war im Talar, und als er sich schwer gegen den Kopierer lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, sah er wie ein reichlich verlebter King Lear aus. Darcy hatte stets etwas übertrieben Theatralisches an sich. »Würde sie sich besser vorbereiten, geriete sie nicht in derartige Panik«, erklärte er hoheitsvoll.
Die heiße Wut, die in ihr aufstieg, überraschte sie selbst am meisten. »Du kritisierst mich, Darcy? Ausgerechnet du!« hörte sie sich schreien. »Dazu hast du kein Recht! Genausowenig wie du das Recht hattest, mich bei Adam Lamb schlechtzumachen. Du weißt genau, wie wichtig das Gespräch mit ihm für mich war.«
»Meine liebe Victoria ...« Darcy zog die Augenbrauen hoch und sah über seine fleischige Nase hinweg auf sie herab. »Ich habe durchaus das Recht, Freunden gegenüber meine fachliche Meinung zu sagen. Und für Erfolg oder Mißerfolg deiner kleinen Projekte bin ich nicht verantwortlich.«
»Hör mit dem blasierten Geschwafel auf!« zischte sie und machte einen verspäteten Versuch, die Stimme zu dämpfen. »Natürlich bist du für meine Arbeit nicht verantwortlich. Aber es steht dir keineswegs zu, sie absichtlich zu sabotieren, nur weil sie nicht in deine antiquierte, kleinkarierte Vorstellung von wissenschaftlicher Verantwortung paßt. Hast du vielleicht Daphne Morris denselben Unsinn über mich eingeblasen wie Adam?«
»Oho!« sagte Darcy und spitzte die Lippen. »Sind wir jetzt mit Adam per Du? Wie nett für dich.« Und kalt fügte er hinzu: »Nur zu deiner Information: Ich habe Daphne seit Lydias Beerdigung nicht mehr gesehen. Und ich habe nicht die Absicht, das in naher Zukunft zu ändern. Ich kann diese Frau nicht ausstehen. Aber ihr beide müßtet euch eigentlich blendend verstehen.«
Während Vic fieberhaft nach einer passenden Entgegnung suchte, hatte Darcy schwungvoll seine Papiere aus dem Kopierer genommen und sich zum Gehen gewandt. »Laß dir nur Zeit«, empfahl er ihr zuckersüß. »Ich brauche meine Kopien erst für die Vorlesungen der nächsten Woche.«
Allein der Gedanke daran trieb Vic die Röte ins Gesicht. Darcy Eliot konnte sehr charmant sein - sie hatte gelegentlich beobachtet, wie zuvorkommend er sich anderen Mitgliedern des Lehrkörpers gegenüber benahm. Warum nur ließ sie sich von ihm zu dieser kindischen Verhaltensweise provozieren? Sie hatte vorgehabt, mit ihm über Adam zu reden; hatte sich vorgenommen, dies auf eine kultivierte, vernünftige Art zu tun, und zwar an einem Ort und zu einer Zeit, die sie bestimmte. Aber Darcy und sie gerieten immer wieder aneinander, und der ständige Schlagabtausch zwischen ihnen tat ihrem Ruf innerhalb der Fakultät nicht gut. In Zukunft würde sie sich mehr um eine konfliktfreie Kommunikationsebene bemühen müssen, so schwierig das auch sein mochte.
Mit einem Seufzer spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und ging hinaus zu Kit in den Garten.
Sie fand ihn an der Gartentür, wo er mit den Füßen in dem Haufen alter Blätter scharrte, den sie längst hatte aufrechen wollen. Er konnte ihr noch immer nicht in die Augen sehen. »Den Weg am Fluß entlang?« fragte sie, und er nickte.
Hinter
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