Deborahs Totenacker
richtig überschaut hatten. Wenn nicht, konnte auch ein Mann wie John Sinclair sehr leicht sein Leben verlieren.
Mit diesen nicht sehr optimistischen Gedanken fuhr er in die Unterwelt des Yard Building…
***
Ungewöhnliche Fälle erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. So war es auch bei mir. Ich hatte in den Apfel gebissen und mußte ihn auch aufessen.
Manfredo Cattini war tatsächlich von seinen Handschellen befreit worden. Er hatte erst einen Kommentar abgegeben, als er seine Hände wieder normal bewegen konnte.
»Ich hätte nicht gedacht, daß ein Bulle Wort hält«, erklärte er mir grinsend. »So sind wir eben.«
»Und wie geht es weiter?«
Wir standen neben dem Rover. Cattini trug noch immer seine Dienstkleidung mit dem Schriftzug NAPOLI auf der Brust. »Ich denke mal, daß Sie fahren werden.«
»I… ich?«
»Ja – Sie.«
»Aber warum soll ich denn fahren?«
»Das ist ganz einfach. Sie kennen den Weg. Und so ganz traue ich Ihnen nicht, denn ich möchte Sie gern unter Kontrolle haben. Es könnte doch sein, daß Sie, wenn ich am Steuer sitze, plötzlich auf dumme Gedanken kommen.«
Er grinste schief. »Trauen Sie mir das zu?«
»Ja.«
Er breitete die Arme aus. »Was wollen Sie, Sinclair? Ich halte mich ebenso an die Bedingungen, wie Sie es getan haben. Auch ich habe meinen Ehrenkodex.«
»Gut zu wissen. Steigen Sie jetzt bitte ein.«
Er nahm hinter dem Lenkrad Platz, als hätte er nie etwas anderes getan.
Da er kleiner war als ich, mußte er nur den Sitz etwas verstellen. Ich setzte mich neben ihn und lotste ihn aus dem Haus.
»Wohin?« fragte ich, als wir die Straße erreicht hatten.
»Zunächst einmal nach Norden. Quer durch die City. Wird kein Vergnügen werden.«
»Das weiß ich.«
»Und Sie fürchten sich nicht vor irgendwelchen Friedhöfen?«
»Ich liebe sie.«
Cattani lachte. Er fuhr konzentriert, denn der dichte Verkehr ließ kaum ein Gespräch zu, was mir auch lieb war, denn ich mußte über gewisse Dinge nachdenken. Wichtig war nur, daß es die Kollegen geschafft hatten, den Sender anzubringen. Ich wußte nicht, was mich auf dem Friedhof erwartete und ob mich dieser Cattani nicht doch in eine Falle lockte. Ich rechnete deshalb mit allem und auch damit, daß ich dann als Einzelperson auf ziemlich verlorenem Posten stand.
Noch wies nichts darauf hin, denn Cattani gab sich locker, lässig und auch fröhlich. Er pfiff ein Lied. Es war ›O sole mio‹.
Es ging ihm also gut.
Warum?
Etwa deshalb, weil er sich auf der Siegerstraße wähnte und mich damit weniger aufmerksam machen wollte, um mich letztendlich reinzulegen?
Zuzutrauen war ihm alles. Er genoß die Fahrt, auch wenn der Verkehr manchmal sehr zäh wurde.
Irgendwann unterbrach ich das Schweigen. »Wie einsam liegt dieser Friedhof?«
»Sehr einsam.«
»Und er wird nicht mehr benutzt, denke ich?«
»Nein, man begräbt dort niemanden mehr.«
Ich überlegte, welcher Friedhof es sein konnte. Sicherlich befand er sich nicht in der City oder deren unmittelbarer Umgebung. Zwar waren mir zahlreiche Friedhöfe bekannt, aber alle hatte ich trotzdem noch nicht besucht. London ist eine Millionenstadt, die sich auch heute noch wie ein Krake ausbreitete. Irgendwo am Stadtrand mußte sich der alte Friedhof befinden. Wahrscheinlich im Norden, denn diese Richtung hatten wir eingeschlagen und beibehalten. Das Wetter war stabil, doch von der Sonne der letzten Tage konnten die Menschen nur träumen.
Meine Aufmerksamkeit ließ nicht nach. Ich war stets auf eine Aktion des Fahrers gefaßt, warf ihm deshalb hin und wieder kurze Blicke zu, die Cattani kommentarlos zur Kenntnis nahm. Dann aber, als wir uns in einem Kreisverkehr einordnen mußten, sagte er etwas, und seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton.
»Haben Sie noch immer Furcht davor, daß ich abhauen könnte, Sinclair?«
»Kaum.«
»Sie verlassen sich auf Ihre Stärke, wie?«
»So ist es.«
»Das müssen Sie auch.«
»Warum?«
Er pfiff wieder. »Ganz einfach, Sinclair. Dieser Friedhof ist nicht so, wie man ihn sich landläufig vorstellt. Er ist – ich will mal sagen – ein Gelände für sich. Eine alte, abgeschlossene Insel, die nicht von Toten bewohnt wird.«
»Hat man sie aus den Gräbern geholt?«
»Nein, aber sie werden längst vermodert sein.«
»Natürlich. Ich vergaß, daß es ein alter Friedhof ist.«
»Genau.«
»Wann werden wir ihn dann erreicht haben?« Cattani hob die Schultern.
»Nun ja, vielleicht in einer halben Stunde, wenn alles
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