Debütantinnen - Roman
dass er denen näher stand, über die er so gern urteilte, und dass er sich nicht von den negativen, weniger angenehmen Teilen seines Charakters distanzieren konnte.
Auf diese Weise erlangte Jack schließlich, zum ersten Mal im Leben, seine Freiheit.
* * *
12 Birdcage Walk
London
23. März 1940
Meine Liebe,
Du bist immer so furchtbar nett. Und ich komme, wenn Du es wirklich willst. Es ist schrecklich in London, aber gleichzeitig seltsam aufregend. Überall spürt man ein Gefühl wahrer Entschlossenheit. Anne macht eine Ausbildung beim Roten Kreuz. Sie hat eine unglaublich süße Schwesterntracht und hat mir gezeigt, wie man die Betten auf Suppendosen aufbocken kann, um darunter auf den Matratzen auf dem Boden zu schlafen. Wenn das Fenster birst, ist man dort vollkommen sicher. Sie ist so klug. Aber mir geht es nicht gut. Und ich möchte Dich nicht aufregen. Vielleicht ist es das Beste, wenn wir einfach weitermachen, findest Du nicht?
D
N achdem er sich am nächsten Morgen angezogen und gefrühstückt hatte, verbrachte Jack den Vormittag in der örtlichen Bücherei, wo er Material über Benedict Blythe las, den einstigen Besitzer der Schreibschatulle. Der Bibliothekar wies ihn auf eine kürzlich erschienene Biografie hin und auf ein weiteres, mit zahlreichen Fotos illustriertes Buch über die Blythe-Schwestern, das erst vor wenigen Wochen herausgekommen war. Als er durch die ersten Kapitel blätterte, entdeckte Jack, dass ihr Vater, Benedict Blythe, ein unbe deutender Akademiker und Historiker gewesen war, dessen Arbeiten über keltische Mythen (insbesondere Im Nebel − Geschichte der irischen Phantasie ) gegen Ende der viktorianischen Ära für kurze Zeit in Mode gewesen waren. Ein altes Foto zeigte, dass er ein gut aussehender, recht extravaganter Mann gewesen war, mit wilden blassblauen Augen und zarten, fast femininen Zügen. Dem Autor zufolge hatte er die junge Society-Schönheit Gwenevere Healy mit ebenso beängstigender Geschwindigkeit wie Entschlossenheit umworben und geheiratet, als sie gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen war. Sie hatten in einem Haus in einem weniger eleganten Stadtteil von Dublin gelebt.
Unter seinesgleichen war Benedict als romantisch und impulsiv bekannt, geliebt für seinen geistreichen Sinn für Humor und seine grenzenlose Großzügigkeit. Doch es schien, dass er auch Gefallen an verwegenen, selbstzerstörerischen Begegnungen fand, die seine junge, fromme Braut weder verstehen noch gutheißen konnte. Also führte er heimlich ein Doppelleben und unternahm häufig Reisen nach Europa, besonders nach Paris, wo er seinen immer unersättlicheren sexuellen Appetit nur in der Gesellschaft billiger, gewöhnlicher Prostituierter befriedigen konnte – die berühmteste darunter La Galoue, die bekannt war dafür, dass sie wirklich jeden als Kunden akzeptierte. Diese Eskapaden führten zweifellos dazu, dass er sich mit Syphilis ansteckte, die ihn mit vierzig Jahren das Leben kostete, zudem begünstigten sie eine wachsende Abhängigkeit von Opium, womit er nicht nur die finanzielle Zukunft seiner Familie aufs Spiel setzte, sondern sie auch von der feinen Gesellschaft isolierte. Beschämt und voller Angst, jemand könnte hinter die wahre Natur der Erkrankung ihres Ehemannes kommen, führte seine Frau ein zurückgezogenes Leben, unterrichtete ihre Töchter zu Hause selbst und verließ sich für Trost und Führung auf ihren Glauben. Als Kinder hatten die Blythe-Mädchen das alte Haus ganz für sich, und sie waren der festen Überzeugung, darin gingen Geister und Kobolde um. Sie spielten wilde, einsame Spiele, hatten nur einander zur Gesellschaft. Hin- und hergerissen zwischen dem strengen katholischen Glauben ihrer Mutter und den übertriebenen phantastischen Geschichten ihres Vaters entwickelten sie sich selbstständig zu mutigen, extremen Charakteren, die zwischen Perioden fast pathologischer Missachtung konventioneller moralischer Normen und intensiver Religiosität schwankten.
Nach dem frühen Tod ihres Gatten verkaufte die Witwe das Haus, ließ ihre beiden Töchter bei ihren Eltern in Dublin und nutzte das Geld, um eine Einladung einer verheirateten Cousine am Belgrave Square anzunehmen, wo sie sich darum bemühte, sich in der Londoner Gesellschaft zu etablieren. Ihren Bemühungen war durchschlagender Erfolg beschieden, viele von Londons begehrtesten Junggesellen ließen sich von ihr bezaubern, und schließlich nahm sie den Heiratsantrag von Lord Warburton an, dessen Frau drei Jahre
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