Decker & Lazarus - 18 - Missgunst
stand wohl auf«, fuhr Marge fort, »und sah, was mit seiner Frau passierte. Dann wurde er durch Schüsse nach hinten geworfen. Der Sohn reagierte schneller und wollte weglaufen, als ihn die Kugeln erwischten. Er brach eineinhalb Meter vor einer der Türen, die nach draußen führen, zusammen.«
»Und die Schützen machten sich nicht die Mühe nachzusehen, ob er wirklich tot ist?«
Marge meinte: »Möglicherweise wurden sie durch irgendetwas abgelenkt und mussten fliehen.«
»Es gibt eins, zwei, drei … sechs Türen in der Bibliothek«, überlegte Decker. »Also könnten wir eine Gruppe haben, von der je ein Schütze durch je eine der Türen kommt und das Paar niederstreckt. Hat jemand einen Vorschlag, was so ein wahres Aufgebot an Mördern dazu bringen könnte, die Ranch zu verlassen, ohne den Sohn auch noch umzubringen?«
Oliver zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein Alarm, wobei wir das System bisher nicht dekodiert haben. Vielleicht auch die Angestellte, die nach Hause kommt. Aber sie hat niemanden weggehen sehen.«
Decker dachte einen Moment lang nach. »Wenn alle dabei waren, sich ein Glas zu genehmigen und zu entspannen, dann war es wahrscheinlich noch nicht sehr spät: nach dem Abendessen, trotzdem früh genug für einen Schlummertrunk – ungefähr zehn oder elf.«
»Ungefähr«, sagte Marge.
»Und der Hausmeister und der Pferdeknecht«, fuhr Decker fort, »waren die beiden schon im Haus, als ihr ankamt?«
»Ja.«
»Und die beiden wohnen hier?«
»In Bungalows, die auf dem Grundstück stehen«, sagte Oliver.
»Wie haben die beiden von den Morden erfahren? Hat jemand sie geholt, oder sind sie durch den Lärm wach geworden oder …«
Die beiden Detektives zuckten wieder nur mit den Achseln.
»Wir werden hier wohl länger unser Lager aufschlagen.« Decker massierte seine Schläfen, da er immer noch Kopfschmerzen hatte. »Lassen wir die Spurensicherung, die Fotografen und die Gerichtsmediziner hier in der Bibliothek ihre Arbeit machen. Es gibt ja noch andere Schauplätze zu besichtigen, und wir müssen die Zeugen befragen. Wo befinden sich die übrigen Leichen?«
Marge zeigte ihm das Areal auf ihrer Karte. »Ich könnte wohl auch so eine gebrauchen«, meinte Decker.
Oliver übergab ihm seine. »Ich besorg mir eine neue.«
»Danke«, sagte Decker. »Ihr beiden übernehmt die anderen Schauplätze, und ich rede mit den Zeugen, vor allem mit denen, die Spanisch sprechen. Mal sehen, ob wir einen zwingenden zeitlichen Ablauf rekonstruieren können.«
»Also los«, sagte Marge, »Ana ist in diesem Zimmer hier.« Sie erläuterte ihm die Lage auf der Karte. »Albanez befindet sich hier, Karns ist hier.«
Decker markierte sich die Räume auf seinem Plan; dann schrieb er jeden Namen oben auf einen neuen Zettel in seinem Notizblock. In diesem Spiel gab es jede Menge Mitspieler. Am besten, er legte gleich eine Spielstandskarte an.
Ana Mendez hatte sich so auf einem Stuhl zusammengekauert, dass sie fast unsichtbar wurde. Sie schien Ende dreißig zu sein und war sehr klein – unter eins fünfzig. Ihre mandelfarbene Haut spannte sich über eine breite Stirn und ausgeprägte Wangenknochen. Ihr Mund war groß, ihre Augen wirkten rund und dunkel. Ihr Haar trug sie als Pagenkopf geschnitten, wodurch sie aus ihrem eigenen Gesicht schaute wie jemand aus einem Fenster, das rechts und links mit dunklen Vorhängen geschmückt worden war und bei dem der kurze Pony oben die Schabracke bildete.
Das Hausmädchen hatte geschlafen, wachte aber auf, als Decker den Raum betrat. Sie rieb sich die Augen, die vom vielen Weinen geschwollen waren, und musste wegen des grellen künstlichen Lichts blinzeln. Decker registrierte, dass ihre weiße Hausangestellten-Uniform mit braunen Flecken beschmiert war, und notierte sich in Gedanken, die Kleidung an die Kriminaltechniker weiterzuleiten.
Decker bat sie, ihm den Verlauf des Abends von Anfang an zu schildern.
Anas freier Tag dauerte von Montagabend bis Dienstagabend. Normalerweise kehrte sie abends früher auf die Ranch zurück, aber letzte Nacht gab es eine besondere Veranstaltung in ihrer Kirchengemeinde, zu der auch ein kurzes Mitternachtsgebet gehörte. Anschließend, so gegen halb eins, fuhr sie zur Ranch, wo sie ungefähr eine Stunde später ankam. Das Herrenhaus war rundum durch einen schweren schmiedeeisernen Zaun mit spitzen Stäben gesichert, daher waren die meisten Tore unbewacht. Sie hatte eine Zugangskarte für das Tor, das der Küche am nächsten lag.
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