Deer Lake 02 - Engel der Schuld
Publicitygag zu inszenieren. Oder für berechnend genug, aus wirklicher Lebensgefahr Kapital zu schlagen. Hatte er ihr denn je Grund gegeben, etwas anderes zu glauben? Hatte er sich je selbst geglaubt, wenn man es recht bedachte?
»Glaub mir, Counselor, ich bin ganz bestimmt kein Held. Ich hatte nicht die Absicht, den Dreckskerl zu fassen. Bis er versucht hat, mich umzubringen. Da bin ich sauer geworden.«
»Was hattest du da überhaupt zu suchen?«
»Ich bin einfach rumgefahren und habe über den Sinn des Lebens nachgedacht. Ist es nicht Ironie des Schicksals, daß ich dabei fast den Löffel abgegeben hätte?«
»Markier hier nicht den Supergescheiten.«
»Oooh, das ist viel verlangt, Süße. Genausogut könnte man den Tiger bitten, die Streifen auf seinem Fell zu wechseln.«
Ellen weigerte sich, das komisch zu finden. Wie konnte er Scherze machen? Er könnte jetzt genausogut in einem Leichensack stecken. Wenn man ihm glaubte, hatte er in den vergangenen Stunden verschiedene Möglichkeiten gehabt, ums Leben zu kommen. Und das Beweismaterial bestätigte seine Geschichte.
»Hast du eine Ahnung, wie lange es in einer Nacht wie dieser dauert, bis man erfriert?« fragte sie.
»Nein. Aber ich würde sagen, ich bin auf dem besten Weg dazu.« Er öffnete und schloß die Schubladen des Tisches auf der Suche nach etwas, das er als Hemd tragen konnte. »Mein Gott, haben die denn keine Heizung? Töten sie hier die Keime, indem sie sie erfrieren lassen?«
»Mach Witze, soviel du willst, ich persönlich bin der Meinung, daß in diesem gottverdammten Spiel genug Leute zerbrochen oder getötet worden sind! Das ist überhaupt nicht komisch!«
Sie wandte ihm den Rücken zu und verfluchte sich innerlich, weil sie die Beherrschung verloren hatte. Das war weder die Zeit noch der Ort dafür. Er war nicht der Mann, um dessentwillen man die Beherrschung verlieren sollte.
Sie mußte durchhalten, mit zusammengebissenen Zähnen die harte Frau markieren. Die Anhörung würde am Dienstag beginnen. Es durfte nicht geschehen, daß sie jetzt unter dem Druck zusammenbrach.
»Ich muß gehen«, flüsterte sie.
Jay sah ihr nach, als sie zur Tür ging. Laß sie gehen, sagte er sich. Es war ohnehin peinlich genug. Doch dann streckte er die Hand aus und packte sie an der Schulter.
»Ellen, warte.«
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Über ihre Schulter sah er, daß sie die Augen geschlossen hatte.
»Du hättest nicht herkommen müssen«, sagte er. Er war froh, daß sie gekommen war: Es mußte ein Zeichen dafür sein, daß die Mauer, die sie errichtet hatte, Risse bekam. Vielleicht konnte er sie mit Charme erweitern und sich Zugang zu ihr verschaffen. »Du warst um mich besorgt?«
»Das muß der Schlafmangel sein.«
»Muß wohl.«
Er stellte sich vor sie hin, legte einen Knöchel unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Ihre Haut sah zu blaß aus, betont durch die scharfen Schatten der Erschöpfung und die kleinen Streßfalten um Mund und Augen.
»Danke, trotzdem«, flüsterte er.
Sie ließ es zu, daß sein Mund sich auf ihren senkte. Es war nur ein Kuß. Etwas, das sie beide locker hinter sich lassen konnten und würden.
»Schlaf ein bißchen«, murmelte er. Das Piratenlächeln zeigte sich. »Wirst du von mir träumen?«
»Wenn mir noch ein Funken Verstand geblieben ist, dann nicht«, sagte sie traurig und verließ den Raum.
Paul saß in seinem geliehenen Wagen am Ende des Lakeshore Drive. Lange wagte er nicht hierzubleiben, aus Angst, ein Polizeiauto konnte heranrollen und ihn schikanieren; und dann würde die Presse wieder auftauchen. Vor zwei Wochen war er den Medien nachgelaufen. Jetzt schlich er umher, fuhr fremde Autos, damit man ihn nicht erkannte. Sie hatten es fertiggebracht, daß er sich wie ein Verbrecher fühlte.
Es gab keinen, an den er sich wenden konnte, der ihn unterstützen würde. Seine Familie in St. Paul war immer nur eine Last und Peinlichkeit für ihn gewesen. Er gehörte nicht zu diesen biertrinkenden Langweilern im Blaumann. Alle zusammen hatten sie den intellektuellen Tiefgang einer Schlammpfütze. Er hatte keine echten Freunde, wie er allmählich feststellte. Die Leute, die angerufen hatten, um am Anfang dieser Tortur ihr Mitgefühl auszudrücken, sahen ihn jetzt etwas reserviert an. Er spürte es, fühlte die emotionale Schranke, die sie errichteten.
Keiner von ihnen hatte angeboten, ihm einen Wagen zu leihen. Keiner von ihnen hätte sein plötzliches Bedürfnis nach Anonymität verstanden. Ein
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