Defekt
Quelle glauben kann,
war es in Venedig zur Zeit der österreichischen Besatzung bei der Polizei sehr
beliebt. Dazu habe ich an eine Flasche Soave oder an einen kräftigeren Piave
Pinot Bianco gedacht. Du hast beides im Keller stehen, und ein altes
venezianisches Sprichwort lautet: >Wer gut trinkt, schläft gut, und wer gut
schläft, denkt nichts Böses und kommt in den Himmel.< Oder so ähnlich.“
„Ich fürchte, kein Wein der Welt könnte verhindern,
dass ich an das Böse denke“, erwidert Benton. „Außerdem glaube ich nicht an den
Himmel. Nur an die Hölle.“
54
Im Erdgeschoss der in einem geräumigen verputzten
Gebäude untergebrachten Zentrale der Akademie brennt vor der Tür des
Schusswaffenlabors ein rotes Lämpchen. Marino, der draußen auf dem Flur steht,
hört das dumpfe Knallen eines Schusses. Trotzdem tritt er ein, wie immer ohne
sich darum zu kümmern, dass im Labor scharf geschossen wird, solange es Vince
ist, der da herumballert.
Vince zieht seine Hand mit einer kleinen Pistole aus
der Luke des horizontal stehenden Kugelfangs aus Edelstahl, der mit Wasser
gefüllt fünf Tonnen wiegt, eine Erklärung dafür, warum sich das Labor im
Erdgeschoss befindet.
„Waren Sie schon fliegen?“, fragt Marino, während er
die Alustufen zur Schießplattform hinaufsteigt.
Vince trägt einen schwarzen Fliegeroverall und knöchelhohe
schwarze Lederstiefel. Wenn er nicht in seine von Waffen und den von ihnen
hinterlassenen Spuren dominierte Welt eintaucht, ist er einer von Lucys
Helikopterpiloten. Wie bei den meisten ihrer Mitarbeiter würde man von seinem
Äußeren nie auf seine Aufgaben schließen. Vince ist fünfundsechzig, hat in
Vietnam einen Black Hawk geflogen und ging anschließend zur ATF, der Behörde
für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen. Er hat kurze Beine, eine breite Brust und
einen grauen Pferdeschwanz, den er angeblich seit zehn Jahren nicht mehr
geschnitten hat.
„Haben Sie was gesagt?“, fragt Vince und nimmt Gehörschutz
und Schießbrille ab.
„Ein Wunder, dass Sie überhaupt noch was hören.“
„Allerdings nicht mehr so gut wie früher. Meine Frau
behauptet, dass ich stocktaub bin, wenn ich nach Hause komme.“
Marino erkennt die Pistole, die Vince gerade testet.
Es ist die Black Widow mit Rosenholzgriff, die unter Daggie Simisters Bett
gefunden wurde.
„Eine niedliche kleine .22er“, meint Vince. „Dachte,
es könnte nicht schaden, sie in die Datenbank aufzunehmen.“
„Sieht nicht danach aus, als wäre sie je abgefeuert
worden.“
„Das würde mich nicht wundern. Viele Leute schaffen
sich Waffen zur Selbstverteidigung an, vergessen sie dann und vermissen sie
auch nicht.“
„Aber wir vermissen etwas“, antwortet Marino.
Vince öffnet eine Schachtel mit Munition und legt
Patronen Kaliber .22 in die Trommel.
„Wollen Sie sie mal ausprobieren?“, fragt er. „Nicht
unbedingt die geeignete Waffe für eine alte Frau, die sich vor Einbrechern
schützen will. Bestimmt hat sie ihr jemand geschenkt. Ich empfehle
normalerweise etwas Benutzerfreundlicheres wie eine Lady Smith .38 oder eine
Pit Bull. Stimmt es, dass die Pistole außer Reichweite unter dem Bett lag?“
„Wer hat Ihnen denn das erzählt?“, fragt Marino und
wird, wie so häufig in letzter Zeit, von einem merkwürdigen Gefühl beschlichen.
„Dr. Arnos.“
„Der war doch gar nicht am Tatort. Was weiß der
schon groß?“
„Nicht halb so viel, wie er glaubt. Allerdings
drückt er sich ständig hier herum und treibt mich in den Wahnsinn. Hoffentlich
hat Dr. Scarpetta nicht vor, ihn fest anzustellen, wenn er mit seiner
Facharztausbildung fertig ist. Sonst könnte es nämlich sein, dass ich mir einen
Job beim Wal-Mart suche. Hier.“
Er hält Marino die Pistole hin.
„Nein, danke. Im Moment wäre er das Einzige, worauf
ich Lust hätte zu schießen.“
„Was meinten sie damit, dass Sie etwas vermissen?“
„Uns fehlt ein Schrotgewehr aus der Waffensammlung,
Vince.“
„Unmöglich.“ Vince schüttelt den Kopf. Sie gehen die
Treppe hinunter, und Vince legt die Pistole auf einen Tisch, der bereits von
weiteren mit Etiketten versehenen Schusswaffen, Munitionsschachteln und
verschiedenen mit Testpulver bestreuten Zielscheiben zur Feststellung von Entfernungen
sowie einer zerbrochenen Autoscheibe aus Sicherheitsglas bedeckt ist.
„Eine Mossberg 835 Ulti-Mag Pumpgun“, fährt Marino
fort. „Die Waffe wurde vor zwei Jahren in dieser Gegend bei einem Raubüberfall
mit Todesfolge benutzt. Der Fall
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