Defekt
so
nett war und sich so für ihre Bäume interessiert hat. Er wollte wissen, wann
sie gepflanzt wurden und was sie für sie bedeuten. Und dann kommt er zurück und
sprüht sie einfach an. Seitdem denkt sie zum ersten Mal seit Jahren wieder an
ihre Pistole. Ihr Sohn hat sie ihr geschenkt, doch sie hat nur geantwortet,
dass ein Verbrecher sie ihr wahrscheinlich aus der Hand reißen und sie gegen
sie einsetzen würde. Die Pistole bewahrt sie unter dem Bett auf, wo niemand
sie sieht.
Sie würde den Kontrolleur zwar nicht gleich
erschießen, hätte aber nichts dagegen, ihm einen ordentlichen Schrecken
einzujagen. Zitruskontrolleure verdienen ihr Geld damit, Bäume ausreißen zu
lassen, die Menschen ihr Leben lang besessen haben. Das hat Mrs. Simister im
Radio gehört. Wahrscheinlich sind ihre Bäume als Nächstes dran. Sie liebt ihre
Bäume. Der Gärtner pflückt die Früchte und legt sie ihr auf die Vortreppe. Jake
hat einen ganzen Garten voller Bäume für sie angelegt, als sie das Haus kurz
nach ihrer Hochzeit gekauft haben. Sie schwelgt noch immer in der
Vergangenheit, als das Telefon auf dem Tisch neben ihrem Schaukelstuhl läutet.
„Hallo?“, meldet sie sich.
„Mrs. Simister?“
„Wer spricht da?“
„Ermittler Pete Marino. Wir haben schon einmal
miteinander telefoniert.“
„Haben wir das? Wer sind Sie?“
„Sie haben vor ein paar Stunden die National
Forensic Academy angerufen.“
„Das habe ich ganz bestimmt nicht. Wollen Sie mir
etwas verkaufen?“
„Nein, Ma'am. Ich würde Sie gern besuchen, falls
Ihnen das recht ist.“
„Nein, ist es nicht“, entgegnet sie und legt auf.
Mrs. Simister umklammert die kühlen Armlehnen aus Metall
so fest, dass ihre dicken Fingerknöchel unter der schlaffen, von Altersflecken
bedeckten Haut sich weiß verfärben. Ständig rufen irgendwelche Leute an, die
sie gar nicht kennt. Manchmal ist auch nur ein Tonband am Apparat, und Mrs.
Simister kann sich keinen Grund vorstellen, warum Leute freiwillig dasitzen und
sich Aufnahmen anhören, mit denen ihnen das Geld aus der Tasche gezogen werden
soll. Wieder läutet das Telefon, doch sie achtet nicht darauf, sondern greift
nach dem Fernglas, um das orangefarbene Haus zu beobachten, in dem die beiden
Damen mit den zwei kleinen Jungen wohnen.
Sie lässt das Fernglas über den Kanal und dann über
das Grundstück am anderen Ufer schweifen. Auf einmal wirken Garten und
Swimmingpool riesengroß, hellgrün und blau. Sie sind deutlich zu erkennen, aber
die blonde Frau im dunklen Hosenanzug und die braungebrannte Frau mit der
Pistole sind nirgends zu sehen. Was suchen sie da drüben? Wohin sind die beiden
Damen, die dort wohnen? Wo sind die Jungen? Heutzutage sind doch alle Kinder
verzogene Bälger.
Es läutet an der Tür. Mrs. Simister hört auf zu
schaukeln, und ihr Herz beginnt zu klopfen. Seit sie älter wird, erschrecken
sie plötzliche Bewegungen oder Geräusche. Und umso mehr fürchtet sie sich vor
dem Tod und vor dem, was er - wenn überhaupt - bedeutet. Einige Minuten vergehen,
dann läutet es wieder. Sie sitzt reglos da und wartet ab. Es läutet erneut, und
jemand klopft laut an die Tür. Schließlich steht sie auf.
Mit schlurfenden Schritten durchquert Mrs. Simister
langsam das Wohnzimmer. Sie kann die Füße nicht mehr so gut anheben wie
früher, und das Gehen fällt ihr schwer.
Vielleicht ist es ja UPS. Manchmal bestellt ihr Sohn
etwas für sie im Internet. Sie späht durch den Spion in der Tür. Der Mensch
draußen trägt weder eine braune noch eine blaue Uniform und hat auch keine Briefe
oder ein Päckchen in der Hand. Er ist es
wieder.
„Was wollen Sie denn wieder hier?“, fragt sie
ärgerlich, das Auge an den Spion gepresst.
„Mrs. Simister, Sie müssen noch ein paar Formulare
ausfüllen.“
27
Das Tor führt in den Vorgarten, wo Scarpetta die
dicken Hibiskusbüsche betrachtet, die das Grundstück von dem am Wasser endenden
Gehweg abtrennen.
Weder abgebrochene Zweige und Äste noch sonst etwas
weist darauf hin, dass jemand durch diese Hecke in das Grundstück eingedrungen
ist. Aus der schwarzen Umhängetasche aus Nylon, die sie stets am Tatort bei
sich trägt, holt sie ein Paar weiße Baumwollhandschuhe. Dabei mustert sie das
Auto, das auf dem rissigen Beton der Auffahrt parkt. Es ist ein alter grauer
Kombi, der schräg und mit einem Rad auf dem Rasen steht, wo er eine Spur im
Gras hinterlassen hat. Während Scarpetta in die Handschuhe schlüpft, fragt sie
sich, warum Ev oder Kristin so
Weitere Kostenlose Bücher