Defekt
Kanals beobachten. Das tut sie schon seit einigen Tagen.
Eine spannende Freizeitbeschäftigung. Hog war nun schon dreimal in dem
orangefarbenen Haus, ohne dass jemand ihn bemerkt hätte. Er ist dort ein und
aus gegangen, um sich an die Ereignisse zu erinnern und sie wieder und wieder
zu durchleben, und er hat sich dabei alle Zeit der Welt gelassen. Niemand sieht
ihn. Er kann sich unsichtbar machen.
Er betritt Mrs. Simisters Garten und beginnt, einen
ihrer Limettenbäume zu untersuchen. Sie richtet das Fernglas auf ihn und öffnet
die Schiebetür, aber sie geht nicht hinaus in den Garten. Er hat sie noch nie
im Garten gesehen. Ihr Gärtner erscheint regelmäßig, aber sie selbst verlässt
nie das Haus und spricht auch nicht mit ihm. Die Lebensmittel werden geliefert,
und zwar immer von demselben Mann. Vielleicht ist es ein Verwandter oder sogar
ihr Sohn. Er trägt nur die Tüten ins Haus und bleibt nie lang. Kein Mensch
kümmert sich um sie. Also sollte sie Hog dankbar sein, denn bald wird sie jede
Menge Aufmerksamkeit bekommen, und viele Leute werden von ihr hören, wenn sie
in Dr. Selfs Sendung erwähnt wird.
„Lassen Sie meine Bäume in Ruhe“, sagt Mrs. Simister
laut und mit starkem Akzent. „Ihre Leute waren diese Woche schon zweimal hier.
Das ist Behördenterror.“
„Entschuldigen Sie, Ma'am. Ich bin hier fast
fertig“, erwidert Hog höflich, während er ein Blatt vom Limettenbaum zupft und
es untersucht.
„Runter von meinem Grundstück, oder ich hole die
Polizei.“ Ihre Stimme wird schriller.
Sie hat Angst und ist wütend, weil sie befürchtet,
ihre heiß geliebten Bäume zu verlieren, und das wird sie auch. Doch es wird
dann keine Rolle mehr spielen. Ihre Bäume sind infiziert. Es sind alte Bäume,
die mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel haben, und jetzt ist es aus und
vorbei mit ihnen. Das war nicht weiter schwer. Immer wenn die großen
orangefarbenen Lastwagen erscheinen, um mit Zitrusbrand verseuchte Bäume zu
fällen und zu zerschreddern, fallen Blätter auf die Straße. Hog hebt sie auf, zerreißt
sie, legt sie in Wasser und sieht zu, wie die Bakterien, winzigen Bläschen
gleich, an die Oberfläche steigen. Dann zieht er eine Spritze auf, die, die
Gott ihm gegeben hat.
Hog öffnet seine schwarze Tasche und holt eine Dose
mit rotem Sprühlack heraus. Damit sprüht er einen roten Streifen rings um den
Stamm des Limettenbaums. Blut am Türstock. Wie der Todesengel, nur dass diesmal
niemand verschont bleiben wird. Hog hört irgendwo in einem dunklen Winkel
seines Kopfes jemand predigen, wie in einer Schachtel, die so gut versteckt
ist, dass er sie nicht erreichen kann.
Ein falsches Zeugnis wird nicht
ungestraft bleiben.
Ich werde nichts sagen.
Lügen werden geahndet.
Ich habe geschwiegen. Wirklich.
Die Strafe durch meine Hand wird endlos
sein.
Ich war es nicht. Ich war es nicht!
„Was machen Sie da? Lassen Sie meine Bäume in Ruhe!
Haben Sie mich verstanden!“
„Ich werde es Ihnen gern erklären, Ma'am“, antwortet
Hog in höflichem, mitfühlendem Ton.
Mrs. Simister schüttelt den Kopf, knallt wütend die
gläserne Schiebetür zu und schließt ab.
26
In den letzten Tagen war es für die Jahreszeit viel
zu warm und regnerisch. Das derbe Gras unter Scarpettas Füßen ist nass, und als
die Sonne wieder hinter den dunklen Wolken auftaucht, fühlen sich ihre Strahlen
heiß und stechend auf ihren Schultern an, während sie im Garten hin und her
geht.
Sie bemerkt die rosafarbenen und roten
Hibiskusbüsche, die Palmen und einige Zitrusbäume mit roten Farbstreifen um den
Stamm. Dann beobachtet sie den Kontrolleur auf der anderen Seite des Kanals,
der gerade seine Tasche zumacht, nachdem die alte Frau ihn angeschrien hat. Sie
fragt sich, ob das wohl Mrs. Simister ist, und nimmt an, dass Marino es noch
nicht geschafft hat, sie zu besuchen. Ständig kommt er zu spät und lässt sich
auch gern bitten, bevor er Scarpettas Anweisungen befolgt, falls er es
überhaupt tut. Sie nähert sich der Betonmauer, die steil zum Kanal hin abfällt.
Hier gibt es zwar vermutlich keine Alligatoren, aber auch keinen Zaun, sodass
ein Kind oder ein Hund leicht herunterfallen und ertrinken könnte.
Ev und Kristin haben zwei Pflegekinder aufgenommen,
aber sich die Mühe gespart, einen Zaun um ihren Garten zu ziehen. Scarpetta
stellt sich das Grundstück bei Nacht vor. Sicher ist bei Dunkelheit kaum
auszumachen, wo der Garten endet und der Kanal beginnt. Er verläuft von Osten
nach Westen. Hinter dem
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