Defekt
Fingerabdrücke der Jungen
nicht mehr im Wagen finden“, erwidert Scarpetta. „Nicht nach vier Tagen. Auch
nicht im Inneren des Hauses. Jedenfalls nicht die des kleineren Jungen, des
Siebenjährigen.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Die Fingerabdrücke von Kindern vor der Pubertät
haben nur eine begrenzte Haltbarkeit von wenigen Stunden oder höchstens ein
paar Tagen. Wir wissen nicht genau, woran das liegt, aber vermutlich an den
Hautfetten, die Menschen nach der Pubertät absondern. Da David schon zwölf
ist, stoßen Sie vielleicht noch auf seine Abdrücke - mit Betonung auf
vielleicht.“
„Oh, das war mir neu.“
„Ich schlage vor, dass Sie diesen Kombi ins Labor
bringen und auf Faserspuren untersuchen lassen. Außerdem sollten Sie das
Wageninnere so schnell wie möglich wegen eventuell noch vorhandender
Fingerabdrücke mit Superglue bedampfen. Das können wir, wenn Sie wollen, auch
in der Akademie erledigen. Wir haben dort eine Werkstatt für die Untersuchung
von Fahrzeugen.“
„Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee“,
antwortet Reba.
„Evs und Kristins Fingerabdrücke müssten eigentlich
im Haus zu finden sein. Und auch DNA-Spuren, einschließlich die der Jungen, und
zwar in Zahnbürsten, Haarbürsten, Schuhen und Kleidung.“ Und dann erzählt sie
Reba von dem anonymen Anrufer, der Kristin Christians Namen erwähnt hat.
Mrs. Simister wohnt allein in einem kleinen weiß
verputzten Häuschen im Ranchstil, das man nach den inzwischen in Südflorida
geltenden Standards nur noch abreißen könnte.
Ihr Carport aus Aluminium ist leer, was jedoch nicht
heißt, dass sie nicht zu Hause ist, denn sie ist weder im Besitz eines Wagens
noch eines gültigen Führerscheins. Marino stellt weiterhin fest, dass die
Vorhänge der Fenster rechts von der Eingangstür zurückgezogen sind und dass
keine Zeitungen auf der Vortreppe liegen. Sie bezieht täglich den Miami Herald, was bedeutet, dass sie mit Brille noch gut genug sehen
kann, um zu lesen.
Ihr Telefon ist schon seit einer halben Stunde
besetzt. Marino stellt den Motor aus und steigt ab, als ein weißer Chevy Blazer
mit getönten Scheiben an ihm vorbeifährt. Es ist eine ruhige Straße. Vermutlich
wohnen in diesem Viertel hauptsächlich ältere Leute, die schon lange hier leben
und sich inzwischen die Grundsteuer nicht mehr leisten können. Die Vorstellung
macht ihn wütend. Man wohnt zwanzig oder dreißig Jahre lang in einem Haus, und
wenn man es endlich abbezahlt hat, stellt man fest, dass die Rente nicht für
die Steuern reicht, die ständig steigen, weil so viele reiche Leute scharf auf
die Ufergrundstücke sind. Mrs. Simisters baufälliges Haus ist auf eine knappe
Dreiviertelmillion Dollar geschätzt worden, und sie wird es wahrscheinlich
schon bald verkaufen müssen, wenn sie nicht zuvor schon in einem Altenheim
landet. Denn sie hat nur dreitausend Dollar auf der hohen Kante.
Inzwischen weiß Marino ziemlich viel über Dagmara
Schudrich Simister, denn er hat nach seinem Telefonat eine Suchanfrage an die
HIT-Datenbank gerichtet. Mrs. Simister, von ihren Freunden Daggie genannt, ist
siebenundachtzig Jahre alt. Sie ist Jüdin und Gemeindemitglied einer Synagoge
ganz in der Nähe, die sie jedoch schon seit Jahren nicht mehr besucht hat.
Niemals hat sie derselben Kirche angehört wie die vermissten Personen auf der
anderen Seite des Kanals, und deshalb hat sie offenbar am Telefon die
Unwahrheit gesagt - vorausgesetzt, dass die Anruferin tatsächlich Daggie
Simister war, was Marino mittlerweile bezweifelt.
Sie wurde im polnischen Lublin geboren, hat den
Holocaust überlebt und anschließend noch bis kurz vor ihrem dreißigsten
Geburtstag in Polen gelebt. Das erklärt auch den starken Akzent, der Marino
aufgefallen ist, als er sie vor ein paar Minuten angerufen hat. Die Anruferin
in Scarpettas Büro hatte hingegen keinen erkennbaren Akzent. Sie klang einfach
nur wie eine alte Frau. Mrs. Simisters einziges Kind, ein Sohn, wohnt in Fort
Lauderdale und ist in den vergangenen zehn Jahren zweimal mit Alkohol am Steuer
und dreimal wegen anderer Verkehrsdelikte erwischt worden. Ironie des
Schicksals ist, dass er sich als Bauunternehmer in der Immobilienbranche
betätigt und somit genau zu den Leuten gehört, die schuld an den immer mehr ansteigenden
Grundsteuern seiner Mutter sind.
Mrs. Simister ist bei vier Ärzten in Behandlung, und
zwar wegen Arthritis, Herzbeschwerden, Problemen mit ihren Füßen und
Sehschwäche. Sie reist nicht,
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