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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Zeitungsausschnitten. Er nahm alles heraus und breitete es auf dem Teppich aus. Die meisten der Zeitungsausschnitte waren aus der hiesigen Zeitung, vorrangig aus dem Jahre 1962. Einige der Artikel waren so groß, dass sie eine ganze Seite der Zeitung gefüllt haben mussten. Zum Teil waren Fotos in die Texte eingearbeitet. Sie zeigten Onkel Hannes, wie er, begleitet von zwei Polizeibeamten, in den Gerichtssaal geführt wurde. Auf anderen Bildern waren Menschen mit Plakaten zu sehen. ›Sperrt den Mörder endlich ein!‹ und ›Keine Gnade für den Kindermörder!‹, stand da geschrieben. Ein Bild zog Toms Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigte ein etwa dreizehnjähriges, blondes Mädchen. Der Bildunterschrift konnte er entnehmen, dass es sich hierbei um die verschwundene Britta Johannsen handelte. Britta wirkte klein und zierlich. Sie lächelte freundlich in die Kamera.
    Den Zeitungsausschnitten konnte er entnehmen, dass Britta Johannsen damals spurlos verschwunden war. Die Polizei hatte aufgrund der gefundenen Sachen von Britta auf ein Verbrechen getippt. Ein Sexualdelikt konnte laut Angaben der Polizei nicht ausgeschlossen werden. Jedoch hatte es keinerlei Hinweise auf einen Mord gegeben. Man hatte nicht mal eine Leiche gefunden. Onkel Hannes war verdächtigt worden, da er am Tag vor Brittas Verschwinden von einigen Dorfbewohnern dabei beobachtet worden war, wie er Britta Johannsen beim Sparmarkt ein Eis gekauft und sich mit ihr unterhalten hatte. Den Berichten zufolge war es während der Gerichtsverhandlung häufig zu Krawallen gekommen, die ihren Höhepunkt nach dem Freispruch gefunden hatten. Einige Männer sollten Onkel Hannes sogar körperlich angegriffen haben.
    Die Buchstaben begannen vor Toms Augen zu tanzen. Er kniff seine Lider mehrere Male fest zusammen, konnte sich jedoch nicht mehr konzentrieren. Sein linkes Bein war eingeschlafen und knickte leicht zur Seite, als er aufstehen wollte.
    Draußen war es mittlerweile dämmerig geworden. In der Küche schmierte er sich ein paar Brote, öffnete eine der Weinflaschen. Mit seinem opulenten Mahl setzte er sich auf die Veranda und versuchte, die Neuigkeiten des Tages in seinem Kopf zu ordnen.

6
    Frieda Mommsen stand unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank. Sollte sie den schwarzen Plisseerock oder lieber das dunkelblaue Jerseykleid anziehen? Sie entschied sich für das Kleid.
    Im Flur rieb sie sich noch einige Tropfen Kölnisch Wasser hinter beide Ohrläppchen, bevor sie den Trenchcoat anzog und die Wohnung verließ.
    Draußen schien die Sonne. Frieda bog vor dem Haus links ab, ging hinauf zur Dorfstraße, dann Richtung Kirche. Es war Sonntagmorgen, außer ihr waren kaum Leute unterwegs. Als sie beim Bäcker vorbeikam, hörte sie bereits die Glocken schlagen. Es war halb zehn, um zehn Uhr begann der Gottesdienst.
    Frieda setzte sich in die hinterste Bank, faltete ihre Hände zum Gebet. Pastor Jensen sprach über Nächstenliebe und Vergebung.
    ›Das ist leichter gesagt als getan‹, dachte Frieda.
    Beim Abendmahl ging sie nicht zum Altar vor, obwohl sie dafür einen fragenden Blick vom Küster erntete. Kurz bevor der Gottesdienst zu Ende war, verließ sie die Kirche. Sie wollte dem Geistlichen nicht begegnen und schlug den Weg zum Pflegeheim ein. Bereits im Flur begegnete ihr Dr. Roloff mit besorgter Miene, an der sie erkennen konnte, dass es ihrem Mann wieder schlechter ging.
    Leise schlich sie in Lorentz’ Zimmer. Er lag in seinem Bett, unruhig warf er sich hin und her, murmelte unverständliche Sätze.
    »Wo bist du?«, schrie er plötzlich so laut, dass Frieda zusammenzuckte.
    Sie zog einen Stuhl an sein Bett, griff nach seiner Hand.
    »Ruhig, Lorentz«, flüsterte sie ihm zu, »ich bin ja hier.«
    Lorentz Mommsen öffnete die Augen. Mit leerem Blick starrte er Frieda an. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
    Dennoch sprach sie mit fester Stimme weiter: »Ich bin es doch nur, deine Frieda.«
    Aber Lorentz reagierte nicht. Wieder schrie er aus Leibeskräften: »Wo bist du? Wo bist du denn nur?«
    Friedas Augen wurden feucht. Langsam löste sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. Sie drehte sich zur Seite. Lorentz sollte ihre Tränen nicht sehen. Auf dem Nachttisch lag sein Lieblingsbuch ›Der Schimmelreiter‹. Frieda nahm es, schlug wahllos irgendeine Seite auf und begann zu lesen:
    »Von der Hofstelle des Deichgrafen, etwa fünf- bis sechshundert Schritte weiter nordwärts, sah man derzeit, wenn man auf dem Deiche stand, ein paar tausend Schritte ins

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