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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
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Strandkörben erstreckte sich über den schmalen Sandstreifen. Das Meer schlug hohe Wellen gegen den Strand.
    Tom zog seine Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und ging die Treppe zum Strand hinunter. Er spürte den warmen Sand unter seinen Füßen. Zwischen den Strandkörben und Handtuchburgen hindurch schlängelte er sich hinunter zum Wasser. Wider Erwarten war es relativ warm. Tom ließ seine Füße von den Ausläufern der Wellen umspülen und blickte hinaus aufs Meer. Welchen Gegensatz diese Weite doch zu der engen, dicht bevölkerten Einkaufsstraße bildete. Der Horizont schien unbegrenzt. Irgendwo in der Unendlichkeit vereinte sich das Blau des Wassers mit dem des Himmels.
    Seine Gedanken wanderten zu Onkel Hannes. Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er sich jemals unwohl oder gar bedroht bei ihm gefühlt hatte, aber eigentlich war das nicht der Fall gewesen. Wenn er auch nicht besonders mitteilsam gewesen war, so hatte sein Onkel ihn doch immer nett und auf seine Art auch fürsorglich behandelt. Vielleicht hatte er ihn sogar liebgewonnen. Manchmal hatte Onkel Hannes sich ja bemüht, ihm eine Freude zu bereiten. Das Fahrrad, die Ausflüge, das Bananensplitt. Doch, so gesehen hatte er es gut bei ihm gehabt. Nur seine Zurückgezogenheit, sein Schweigen hatten Tom manchmal zugesetzt. Aber dass Hannes gewalttätig ihm gegenüber geworden war, daran konnte Tom sich nicht erinnern. Er fragte sich, warum er, nachdem er nach München an die Uni gegangen war, nie wieder zurückgekehrt war. Keinen einzigen Gedanken hatte er daran verschwendet, jemals wieder hierher zu kommen. Nicht mal im Urlaub. Dabei war es hier im Norden wunderschön. Die Weite der Landschaft, die unbegrenzte Natur, das Gefühl, dem Himmel hier ein Stück näher zu sein. Aber er wusste selbst nicht, was ihn davon abgehalten hatte. Auch Kontakt hatten sie keinen mehr gehabt. Anfänglich hatte Tom noch hin und wieder eine Karte geschrieben. Weihnachten, zum Geburtstag und aus dem Urlaub. In den letzten Jahren jedoch hatte er damit aufgehört. Vielleicht lag es daran, dass Hannes ihm nie geantwortet oder ebenfalls mal eine Karte geschickt hatte. Irgendwie vermutete Tom jedoch, dass es andere Gründe gab.
    Er lief los. Der Strand wurde leerer, nur vereinzelt waren hier und da noch ein paar Handtücher ausgebreitet, ließen sich Strandbesucher von der Sonne bräunen. Tom hing seinen Gedanken nach.
    Er merkte gar nicht, wie weit er den Strand bereits entlang gewandert war, so sehr war er in seine Erinnerungen hinabgetaucht. Als er endlich wieder stehen blieb und sich umblickte, hatte er schon die Ausläufer des Roten Kliffs erreicht. Ehrwürdig erhob es sich vor ihm. Beim Sonnenuntergang leuchtete es meist rötlich, aber jetzt erklärte sich sein Name nicht von selbst. Eher bräunlich wirkte es und das rote Abendkleid, welches dem faszinierenden Naturphänomen seinen Namen gab, fehlte.
    Tom blickte auf seine Uhr und erschrak. Es war bereits zwanzig nach zwei. Eilig machte er sich auf den Rückweg und hoffte, Martin Schleier noch rechtzeitig an der Musikmuschel zu begegnen.

     
    Frieda löste vorsichtig den Marmorkuchen aus der Backform. Sie war zum Kaffee mit den Landfrauen verabredet. Jede brachte reihum zu diesen Treffen einen Kuchen oder eine Torte mit. Diesmal war Frieda an der Reihe gewesen. Sie setzte den fertigen Kuchen auf einen großen Teller, bestäubte ihn mit Puderzucker.
    Am Vormittag war sie bereits bei Lorentz gewesen. Sein Zustand war unverändert. Seit der Begegnung mit Marlies Johannsen war er aufgewühlt und unruhig. Die Ärzte hatten ihm Medikamente gegeben, die aber wenig halfen. Er drehte sich hin und her in seinem Bett, rief immer wieder: »Wo ist sie! Wo ist sie denn nur!«
    Frieda hatte es nicht lange bei ihm ausgehalten. Sie machte sich Vorwürfe, ihm die vielen Leute zugemutet zu haben. Dr. Roloff hatte versucht, sie zu beruhigen.
    »Das ist keine unübliche Reaktion bei dieser Krankheit. Ihr Mann scheint sich an irgendetwas aus seiner Vergangenheit zu erinnern. Ein Ereignis, das ihn wahrscheinlich damals schon sehr aufgewühlt hat. Da er sich an fast gar nichts erinnern kann, insbesondere nicht an kürzer zurückliegende Ereignisse, erlebt er diese Erinnerungen umso intensiver. Das legt sich. So schlimm es klingt, aber schon bald wird er den Anlass für seine Aufregung vergessen haben.«
    Das schmerzte. Warum löste ihre Anwesenheit nicht solch intensive Erinnerungen bei Lorentz aus? Warum starrte er, wenn er sie sah, immer

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