Deichgrab
nur teilnahmslos auf die Wand? Hatten sie denn keine intensiven Erlebnisse in ihrer Vergangenheit gehabt? Hatte er vergessen, was sie erlebt hatten, was sie für ihn getan hatte? Sie war den Tränen nahe gewesen und Dr. Roloff hatte ihr geraten, nach Hause zu gehen. Momentan könne sie für Lorentz nichts tun, hatte er gemeint.
Sie packte den Kuchen in Alufolie ein. Dann zog sie den schwarzen Plisseerock und eine kurzärmelige Bluse an. Im Spiegel betrachtete sie ihr Spiegelbild. Blass und müde sah sie aus. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Sie tupfte sich ein paar Tropfen Parfum hinter die Ohren, holte den Kuchen aus der Küche und ging.
Sie spazierte die Dorfstraße entlang, bog in der Kurve Richtung Kirche ab. Am Tor zum Friedhof blieb sie kurz stehen, überlegte einen Moment. Schließlich öffnete sie die kleine Holzpforte. Den Hauptweg entlang, dann links, schon stand sie am Grab von Britta Johannsen. Frische Blumen waren neben dem Stein in einer Steckvase arrangiert, die schmalen Wege links und rechts neben der Grabstelle waren frisch geharkt.
Sie blickte auf den massiven Marmorstein. ›Hier würde unser kleiner Engel ruhen, wenn er nicht in den Himmel aufgefahren wäre‹ stand darauf in messingfarbenen Buchstaben geschrieben. Nachdem man endgültig die Suche nach Britta aufgegeben und sich damit abgefunden hatte, dass Hannes Friedrichsen nicht gestehen würde, wo die Leiche versteckt war, hatte man Brittas Eltern gestattet, auf diese Weise Abschied von ihrer Tochter zu nehmen.
Frieda drehte sich um. Sie ging jedoch nicht den Weg zurück, den sie gekommen war, sondern folgte dem kleinen Kiesweg hinauf zum Grab von Hannes Friedrichsen. Sie blieb kurz stehen, blickte auf das Holzkreuz. Dann spuckte sie auf die Grabstelle und ging schnell weiter. Über den Hauptweg verließ sie den Friedhof, überquerte die Straße hinüber zum Gemeindehaus.
Vier der anderen Landfrauen warteten bereits. Freudig begrüßten sie Frieda, nahmen ihr den Marmorkuchen ab. Ein langer Tisch war mit Kaffeegeschirr gedeckt, Frieda setzte sich auf einen der Stühle. Nach und nach trafen auch die anderen Frauen ein. Die Plätze am Tisch füllten sich, eine freudige Atmosphäre herrschte. Angeregtes Geplauder erfüllte den Raum. Frieda war es jedoch überhaupt nicht freudig zumute. Geduldig beantwortete sie die immer wieder gestellten Fragen nach Lorentz’ Befinden. Dann stand plötzlich Meike Petersen neben ihr.
»Ist der Platz noch frei?«
Frieda blickte auf und erschrak. Meike sah ihrem eigenen Spiegelbild erstaunlich ähnlich, nur ein paar Jahre jünger. Sie nickte ohne ein Wort und Meike nahm neben ihr Platz. Es war offensichtlich, dass es ihr nicht gut ging. Frieda goss ihr einen Kaffee ein. Die junge Frau versuchte zu lächeln.
Zunächst saßen sie schweigend nebeneinander, aßen Kuchen. Plötzlich stand Meike ruckartig auf, verließ eilig den Raum. Nach wenigen Minuten kam sie zurück.
»Ist dir nicht gut?«
Meike schüttelte den Kopf. Tränen standen in ihren Augen. Sie seufzte laut, dann schlug sie die Hände vor’s Gesicht, begann zu weinen. Augenblicklich war es still im Raum. Alle Augen waren fragend auf die schluchzende Frau gerichtet. Frieda reichte ihr ein Papiertaschentuch.
»Ich habe mich von Frank getrennt«, brachte Meike schließlich hervor.
Die Stille hielt an.
»Aber wieso denn, Kindchen?«, fragte Paula Michels über den Tisch hinweg.
»Das ist eine lange Geschichte.«
Um kurz nach drei Uhr erreichte Tom schnaufend die Musikmuschel. Das letzte Stück war er gerannt, die Leute hatten ihm mit verwunderten Blicken hinterhergeschaut. An der Muschel standen etliche Menschen. Tom wusste nicht, wie er Martin Schleier finden sollte.
Er setzte sich auf eine der weißen Holzbänke und zog seine Schuhe an. Plötzlich fiel ein Schatten auf ihn. Vor ihm stand ein großer, dunkelhaariger Mann. Er trug sandfarbene Shorts und ein Poloshirt.
»Ich glaube, wir sind verabredet«, sagte er.
Tom stand auf und musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um zu ihm aufzuschauen. Er reichte dem Mann knapp bis zur Schulter.
»Wenn Sie Martin Schleier sind?«
Der Mann nickte, reichte ihm die Hand. »Dann sind Sie Tom Meissner.«
Tom erwiderte seinen Händedruck.
»Wie haben Sie mich zwischen all den Leuten erkannt?«
»Journalistengespür.«
Sein Blick war freundlich, er wirkte aufgeschlossen. Tom hatte nach dem gestrigen Telefonat eigentlich erwartet, dass Martin Schleier sich nur widerwillig
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