Deichgrab
über das Meer. Wahrscheinlich würde er die Wahrheit niemals herausfinden.
Sie kehrten zum Haus zurück. Sein Gastgeber bot ihm an, ihn zum Bahnhof zu fahren.
Über die Hauptstraße der Insel fuhren sie nach Westerland. Am Bahnhof war viel Betrieb. Martin Schleier hielt nur kurz auf dem belebten Bahnhofsvorplatz. Tom stieg aus.
»Vielen Dank für alles«, sagte er zum Abschied.
»Wir bleiben in Kontakt«, rief der ehemalige Journalist ihm zu.
Tom winkte dem Geländewagen nach, der einem hupenden Taxi Platz machen musste.
Der nächste Zug fuhr in achtzehn Minuten. Er kaufte sich am Kiosk ein kleines Taschenbuch. ›Lewer duar üüs Slaav‹ war der Titel und es handelte von der friesischen Freiheitsideologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Besuch bei Martin Schleier war aufschlussreich gewesen. Er hatte aber auch neue Fragen aufgeworfen. Fragen, auf die Tom noch keine Antwort wusste.
Meike klopfte vorsichtig und öffnete langsam die weiße Tür mit der Zimmernummer 239. An der Information hatte man ihr diese Zimmernummer genannt, als sie nach ihrem Schwiegervater gefragt hatte.
Es war ein Einzelzimmer. Broder lag in dem riesigen Krankenbett, sein Körper wirkte klein und hilflos. So hatte Meike ihren Schwiegervater noch nie gesehen. Ein Plastikschlauch sorgte dafür, dass er genügend Sauerstoff bekam. Neben dem Bett stand ein piepsender Monitor, der die Regelmäßigkeit seiner Herztöne überwachte.
Als sie zögerlich den Raum betrat, stand Frank von dem kleinen Hocker neben dem Bett auf. Er sah müde aus. Sie trat an das Bett, nahm die leblose Hand von der Bettdecke. Meike war erleichtert, als sie die Wärme der Hand spürte.
»Die Ärzte sagen, er hat noch einmal Glück gehabt«, sagte Frank, ohne sie anzublicken.
Zu beschämend empfand er das Gefühl, sie so dringend zu brauchen. Er wünschte sich, sie würde ihn in ihre Arme nehmen, aber sie blieb am Bett stehen, streichelte sanft über Broders Wange.
Wie oft hatte ihr Schwiegervater ihr das Leben zur Hölle gemacht mit seiner herrischen Art? Wie viele Male hatte sie unter seinen Wutattacken gelitten? Dennoch empfand sie nun, als sie ihn so hilflos wie ein kleines Kind vor sich liegen sah, so etwas wie Zuneigung. Vielleicht war es auch Mitleid. Selten hatte sie ihn fröhlich erlebt.
Seit dem Tod von Magda war er verbittert und fast hatte es den Anschein, als befände er sich auf einer permanenten Flucht. Einer Flucht vor der Vergangenheit, vor den Erinnerungen, einer Flucht, die ihm ein gegenwärtiges Leben nicht erlaubte. Jetzt, wo er so friedlich vor ihr lag, fragte sie sich, ob er wirklich Glück gehabt hatte, ob sein Tod nicht gleichzeitig eine Erlösung für ihn gewesen wäre.
Sie versuchte die Tränen, die sich an den Rand ihrer Augenlider schoben zu unterdrücken und fragte leise: »Was ist passiert?«
Frank schilderte ihr, wie er seinen Vater am Abend in der Badewanne vorgefunden hatte.
»Es war ein leichter Schlaganfall, aber das Schlimmste hat er überstanden.«
Jetzt blickte Frank auf. Er sah ihr in die Augen und spürte, wie sehr er sie noch immer liebte, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Zu tief saß der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. In ihren Augen konnte er es deutlich erkennen. Verlegen räusperte er sich.
»Wollen wir vielleicht hinunter in den Aufenthaltsraum gehen?«
Meike nickte wortlos.
Manchmal überlege ich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns nie begegnet wären. Wenn ich nicht mit all den Lügen hätte leben müssen, wenn ich einfach nur glücklich hätte sein können.
Ob ich tatsächlich glücklich gewesen wäre? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Es ist zu spät, um es herauszufinden, ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Jedenfalls jetzt. Nach dem Mord. Der gehört wahrscheinlich auch zu meinem Schicksal.
Schicksal, was ist das überhaupt? Ist es etwa dafür verantwortlich, dass ich jahrelang belogen und betrogen worden bin? Ich war zu feige, den Dingen auf den Grund zu gehen. Für mich hatte es nur die Möglichkeit gegeben, ihn zu ermorden, als ich herausfand, dass er schuld an meinem verpfuschten Leben war.
Als das Mädchen verschwand, hatte es angefangen. Jedenfalls rede ich mir das ein. Oberflächlich betrachtet, ging das Leben zwar weiter, aber nicht wirklich. Zu tief schmerzte ihr Verlust und die Erinnerungen, die damit verbunden waren. Der Kummer und Schmerz um ihr Verschwinden ließen einen nicht zur Ruhe kommen, machten krank. Das habe ich
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