Deichgrab
Bild mit dem schwarzen Stein.
»Ja also, ich weiß nicht.«
»Einen Spruch kann ich Ihnen sehr empfehlen. Das macht so einen Stein sofort viel persönlicher. Wie wäre es zum Beispiel mit ›O ich hab das Heil gefunden, mir der sel’ge Friede ward‹? Wird gerne genommen. Oder ›Daheim! O welch ein schönes Wort! Daheim! O welch ein sel’ger Ort‹?«
In seinem Kopf begann es zu surren.
»Oder etwas Moderneres? Vielleicht, ›Je dunkler der Himmel ist, desto heller werden die Sterne scheinen‹? Ist übrigens von Leonardo da Vinci?«
Er stand unvermittelt auf.
»Ja, wissen Sie, ich glaube, da muss ich mir erstmal noch so meine Gedanken machen. Ich melde mich nochmal bei Ihnen!«
Er eilte zur Tür. Hinter sich hörte er den Mann immer noch Vorschläge machen.
»Es gibt auch sehr schöne Sprüche von Christian Morgenstern oder ...«
Er schlug die Tür hinter sich zu und lief die kleine Straße hinunter bis zur Ecke am Rathausplatz. Dort blieb er stehen und holte tief Luft. Er warf seinen Kopf hin und her, so als könne er das eben Erlebte von sich abschütteln.
»Das gibt es doch gar nicht.«
Ein vorbeigehender älterer Mann blickte ihn fragend an. Als er den Blick bemerkte, ging er schnell weiter.
Direkt am Rathausplatz lag die alte Apotheke. Ihm fielen die Medikamente für Haie ein. Die Apothekerfrau war sehr freundlich, erkundigte sich nach den genauen Symptomen, aber er konnte ihr nur sagen, dass sein Freund sich ständig übergeben musste. Vorsorglich kaufte er noch eine Packung Imodium akut. Die Apothekerfrau meinte nämlich, häufig gehe ja Erbrechen gleichzeitig mit Durchfall einher.
Als er die Apotheke verließ, klingelte sein Handy. Es war Marlene. Sie fragte ihn, ob sie sich heute treffen wollten, aber er antwortete:
»Haie geht es heute nicht gut.«
»Oh, dann ist es wohl besser, wenn du ihn pflegst.«
Er schlug vor, sie am Abend anzurufen.
»Das ist schlecht. Ich fahre heute Abend schon wieder zurück nach Hamburg. Morgen habe ich einen wichtigen Termin an der Uni.«
»Das ist schade.«
»Ja, das ist wirklich schade.«
Er fragte sie nicht, wann sie sich wieder sehen konnten, sondern sagte nur:
»Dann bis bald!«
Kaum hatte er aufgelegt, bereute er auch schon, ihr nicht gesagt zu haben, dass er in der Stadt war und sie sich auf einen Kaffee treffen konnten. Er schob die Schuld auf das verwirrende Gespräch mit dem Bestatter. Dennoch rief er sie nicht noch einmal an, sondern machte sich auf den Heimweg.
Unterwegs hielt er kurz an einem Supermarkt und kaufte Tee, Zwieback, Gemüse und ein frisches Hühnchen. Er wollte für Haie eine kräftige Hühnerbrühe kochen. Danach würde es ihm sicherlich gleich besser gehen.
Als er das Haus betrat, saß Haie in der Küche. Er sah immer noch elend aus. Er packte die Tüte aus dem Supermarkt aus, reichte ihm die Medikamente.
»Das Paspertin soll gegen Übelkeit Wunder wirken und das Imodium ist gegen ...«
»Ich weiß, ich weiß, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Durchfall hab ich keinen, eher das Gegenteil.«
45
Der Monitor verzeichnete eine regelmäßige Herzfrequenz. Die Schwester stand neben Broders Bett und überprüfte seine Werte, als er die Augen öffnete. Mit glasigem Blick starrte er sie an.
»Na, Herr Petersen, wie geht’s uns denn heute?«
Er hörte zwar ihre Stimme, verstand aber die Worte nicht. Ihm war schrecklich kalt, seine Lippen begannen zu zittern. In seinen Ohren rauschte es. Plötzlich spürte er Panik in sich aufsteigen. Er schlug wild mit den Händen um sich. Die Kurven auf dem Monitor stiegen heftig an. Ein Warnsignal erklang. Die Schwester redete permanent auf ihn ein.
»Herr Petersen, was ist denn? Sie müssen sich beruhigen!«
Aber er nahm sie gar nicht war. Ein Bild hatte sich vor sein inneres Auge geschoben. Immer aufgebrachter schlug er um sich. Die Schwester rannte aus dem Zimmer, rief durch den Flur nach einem Arzt. Plötzlich hörte sie einen Schrei aus dem Zimmer.
»Der Deich bricht!«
Während Tom das Gemüse für die Hühnerbrühe kleinschnitt, saß Haie auf der Eckbank und nippte an einer Tasse Tee.
»Wie war es denn nun gestern bei Elke? Hast du mit ihr gesprochen?«
Haie nickte stumm. Er war immer noch ganz fassungslos über die Tatsache, all die Jahre nichts bemerkt zu haben. Ihm war nicht aufgefallen, wie unglücklich sie gewesen sein musste. Und das musste sie, denn sonst hätte sie sich sicher nicht mit Klaus Nissen eingelassen.
»Sie muss furchtbar einsam gewesen
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