Deichgrab
und schlief. Leise schloss er die Tür.
Er räumte den Küchentisch ab. Sein Blick fiel auf den alten Schuhkarton mit seinen Briefen, den er zu den anderen Sachen, die er aufheben wollte, gestellt hatte. Er nahm den Karton, öffnete den Deckel und suchte nach einem der letzten Briefe, die er noch nicht gelesen hatte.
Lieber Großvater,
heute ist vielleicht etwas Merkwürdiges passiert. Ich bin mit dem Fahrrad hinunter zum Laden gefahren. Onkel Hannes zahlt mir jetzt regelmäßig Taschengeld. Zwei Mark die Woche und für gute Noten in der Schule bekomme ich noch etwas extra.
Also, ich hatte mein Taschengeld für einen Fahrradwimpel zusammengespart. So einen ganz Tollen, der reflektierte sogar das Licht. Auf jeden Fall gehe ich in den Laden und will mir den tollen Wimpel vom Ständer nehmen, da schreit plötzlich eine Frau durch den ganzen Laden. Ich habe um die Ecke zur Kasse geschaut und da standen zwei Frauen und schrien sich an. Die eine hat der anderen sogar an den Haaren gezogen. Und ich dachte immer, so etwas machen Erwachsene nicht.
Jedenfalls haben die beiden Frauen sich immer weiter angeschrien. Ich glaube, die eine war böse auf die andere, weil irgendein Mann die Frau wohl lieber mochte oder so. Genau habe ich das nicht verstanden. Irgendwann hat die eine Frau angefangen zu weinen und ist aus dem Laden gerannt. Die andere Frau ist kurz darauf auch gegangen. Die hat nicht mal was gekauft. Als es wieder ruhig war, habe ich mich mit meinem Wimpel an die Kasse getraut.
Die Frau an der Kasse hat mich wütend angeschaut und nur ihre Hand aufgehalten, in die ich das Geld für den Wimpel zählen musste. Fast fünf Mark. Als ich aus dem Laden gegangen bin, hab ich gehört, wie die Kundin nach mir zu der Kassiererin gesagt hat:
»Eigentlich kann der ja auch nichts dafür.«
Und die Kassiererin hat geantwortet: »Wenn der das man nicht auch in den Genen hat.«
Was die damit gemeint haben, weiß ich nicht. Na ja, vielleicht ist es auch gar nicht wichtig.
Ich fahr jetzt auf jeden Fall noch eine Runde mit dem Rad.
Bis bald!
Viele liebe Grüße,
Dein Tom
Tom faltete das Papier zusammen und ließ den Brief zurück in den Schuhkarton gleiten.
Heute wusste er, was die Kassiererin mit ihrer Äußerung gemeint hatte. Sie hielt seinen Onkel ja heute noch für einen Mörder, so wie fast alle hier im Dorf.
Wer jedoch die beiden Frauen waren, die sich so laut im Laden gestritten hatten, war ihm allerdings nicht so klar. Vielleicht waren es tatsächlich diese Frieda und Marlies gewesen. Wie hatte Herr Schmidt noch so schön gesagt? Man vermutete, Frieda habe ihren Mann mit ihrer permanenten Eifersucht in den Wahnsinn getrieben. Warum sollte sie nicht auch andere Frauen angegriffen haben, wenn sie so krankhaft eifersüchtig war? War doch möglich. Allerdings sagte das natürlich nichts darüber aus, ob denn ihr Mann nun wirklich ein Verhältnis mit Marlies gehabt hatte. Vielleicht hatte sich das diese Frieda auch nur alles eingebildet?
Er stand auf und schaute noch einmal nach Haie. Der schlief tief und fest auf dem Sofa.
Er verließ das Haus, ging durch den Garten. An dem kleinen Weg blieb er stehen und blickte auf das Stück Land vor ihm. Er fragte sich, warum Broder Hannes das Land überschrieben hatte? Und die monatlichen Zahlungen? Vielleicht war das Geld aus dem Schließfach auch von Broder Petersen. Irgendetwas musste sein Onkel gegen ihn in der Hand gehabt haben. Nur deswegen hatte er wahrscheinlich gezahlt. Vielleicht hatte er ihn erpresst? Gut möglich, aber womit? Hatte er doch etwas mit dem Giftmüll zu tun gehabt?
Ohne es zu merken, war er den Weg immer weiter Richtung Friedhof gelaufen. Nun stand er vor der hölzernen Pforte und drückte die kleine, verschnörkelte Klinke hinunter. Langsam schritt er über den Kiesweg.
Vor Hannes’ Grab blieb er stehen. Er versuchte, sich den schwarzen, glänzenden Marmorstein anstelle des einfachen Holzkreuzes vorzustellen. Nach einer Weile schüttelte er seinen Kopf.
›Nein‹, dachte er, ›der passt nun wirklich nicht zu Onkel Hannes.‹
Wenig später verließ er den Friedhof und lief noch ein Stück weiter hinunter ins Dorf bis zum Sparladen.
Er öffnete die gläserne Tür und erkannte sofort die alte Kassiererin. Auch sie erkannte ihn, denn ihr Blick verfinsterte sich, als sie beim Öffnen der Ladentür ihren Kopf hob. Der feindselige Ausdruck in ihren Augen machte deutlich, sie würde nicht mit ihm sprechen. Er nahm sich einen
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