Dein Blut auf meinen Lippen
schüttelte missbilligend den Kopf. "Du hast eine spitze Zunge, Julia! Das ist kein schöner Zug an einer jungen Dame."
"Wenigstens passt sie zu den spitzen Zähnen, die mir bald wachsen."
Wieder wurde an die Tür geklopft, dieses Mal noch lauter und fordernder.
"Achte auf deine Manieren', Kind! Bitte!", flehte die Amme.
"Warum sollte ich? Meine Tage als Mensch sind gezählt. Da ist es ja wohl nur zu verständlich, dass ich sie genießen und meinen Spaß haben will."
"Grundgütiger! Hör auf, lose Reden zu halten!" Die Amme glättete Julias Haar und band es im Nacken mit einem schwarzen Satinband zusammen. Dann seufzte sie tief und eilte zur Kammertür.
Beim Anblick der Gräfin erschauerte Julia wie von einem kalten Windhauch.
Die Amme machte einen tiefen Knicks und sagte respektvoll: "Eure Hochwohlgeboren."
Ohne die Dienerin der Tochter zu beachten, kam Gräfin Capulet herein. Dabei bewegte sie sich schwebend voran, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Sie trug ein langes, tiefschwarzes Gewand und hielt die Hände vor der Brust gefaltet. Ihre blasse, gelbliche Haut war vollkommen makellos, ihr schwarzes Haar streng aus dem Gesicht gekämmt und zu einem üppigen Knoten gebunden, sodass ihre glühend roten Augen zur Geltung kamen.
Sie war eine imposante Erscheinung; kein weiblicher Vampir konnte es mit ihrer Schönheit aufnehmen. Auch Julia bewunderte ihr Aussehen. Allerdings hatte das Mädchen bis zum heutigen Tag nicht bemerkt, wie ähnlich sie sich sahen. Gerade jetzt, drei Tage bevor sie sich in einen Vampir verwandeln würde, zählte für sie nur die Wesensverwandtschaft.
"Lass uns allein, Amme!", befahl Gräfin Capulet herrisch. "Ich muss meine Tochter unter vier Augen sprechen."
Erschrocken blickte Julia auf. Mehr denn je hätte sie jetzt die Unterstützung ihrer engsten Vertrauten gebraucht.
"Wie Sie wünschen." Die Amme deutete einen Knicks an, eilte aus der Kammer und schloss die Tür hinter sich.
Julia schluckte und wünschte, etwas Heiteres würde das drückende Schweigen beenden - und sei es Vogelgezwitscher vor dem Fenster.
Die Gräfin schwebte zu dem Nachttisch neben Julias Bett und hielt die Hand über eine kupferne Öllampe. Eine Flamme loderte auf und tauchte Julias Gesicht in goldenes Licht. Zwar verfügten alle weiblichen Vampire über Zauberkräfte, aber die der Gräfin überstiegen die aller anderen bei weitem.
"Komm, lass dich anschauen!", sagte sie, sah ihrer Tochter in die Augen und fuhr ihr mit langen, spitzen Fingernägeln über die Wangen.
Julia hielt die Tränen zurück. Sie wusste, dass ihre Mutter es kindisch fand, zu weinen.
"Dein Teint verändert sich", sagte die Gräfin stolz. "Hast du es schon bemerkt?"
"Ich habe gar nicht darauf geachtet", log Julia und mied den prüfenden Blick ihrer Mutter.
In Wirklichkeit war Julia nicht entgangen, dass die Verwandlung in der letzten Nacht begonnen hatte. Seither wurde ihr lebendiges, rosiges Gesicht langsam blasser. Bald würden auch ihre Augen die Farbe wechseln, von blau zu rot, und ihre Fingernägel lang und spitz werden. Als Nächstes würde sie spezielle Fähigkeiten entwickeln: Sie könnte dann schweben und Blut riechen. Und natürlich würde sie keinen Schatten mehr werfen und sich nicht mehr im Spiegel sehen können.
Das Schlimmste an der Verwandlung aber wäre etwas, das selbst ein so selbstbewusster und starker Vampir wie ihr Cousin Tybalt gefürchtet hatte: ein ungeheurer Blutdurst, der sie quälen würde, bis sie ihm an ihrem sechzehnten Geburtstag kurz vor Mitternacht nachgab.
Ihre einzige Chance, ihre Verwandlung aufzuhalten, bestand darin, diesem Blutdurst zu widerstehen. Sie hoffte inständig, dass sie ihren guten Vorsätzen treu bliebe, denn sonst würde sie durch das Verwandlungsritual unwiderruflich zu einem vollwertigen Vampir. Nur Angehörige der Vampir-Gemeinschaft kannten dieses Ritual: Zuerst musste man Jagd auf einen Menschen machen und ihn töten, eigenhändig und ohne fremde Hilfe. Danach musste man ihn bis zum letzten Blutstropfen aussaugen, sodass nichts als eine vertrocknete Hülle von ihm übrig blieb.
Obwohl Julia schon bei dem Gedanken daran schlecht wurde, wusste sie sehr wohl, dass sie verhungern und sterben musste, wenn sie das Ritual verweigerte. Deshalb war sie sich keineswegs sicher, ob sie stark genug sein würde, um standhaft zu bleiben.
Gräfin Capulet hatte genug gesehen. Ungehalten senkte sie die Hand und erstickte die Flamme der Öllampe. "Bildest du dir immer noch ein,
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