Dein Blut auf meinen Lippen
es wäre, das Schloss einfach zu verlassen und in die Berge zu flüchten, sich mit den wilden Tieren anzufreunden und von den Früchten des Waldes zu leben. Wie dumm sie damals gewesen war!
"Ich nehme an, du sprichst von deinem Geburtstag." Mit festen Schritten, die auf dem Marmorboden widerhallten, kam die Amme herein. Sie war klein und hatte stämmige, kurze Beine. Hinter Julia blieb sie stehen und streifte ihrer jungen Herrin das Tageskleid mit einer einzigen schnellen Bewegung ab. "Die meisten jungen Mädchen können es gar nicht abwarten, sechzehn zu werden. Oder irre ich mich da etwa?"
Julia schloss die Augen und spürte die Strahlen der untergehenden Sonne durch den dünnen Unterrock auf der Haut. Schon bald würde es für sie den Tod bedeuten, wenn sie sich dem Sonnenlicht aussetzte.
"Die meisten jungen Mädchen müssen ja auch niemanden umbringen und sein Blut bis zum letzten Tropfen aussaugen, um ihren sechzehnten Geburtstag zu überleben", entgegnete sie.
Die Amme machte ein strenges Gesicht und erwiderte: "Es hat keinen Sinn, sich das Unmögliche zu wünschen. Setz dich lieber hin, damit ich das Vogelnest auf deinem Kopf entwirren kann, ehe die Gräfin kommt und nach dir schaut. Wir wollen doch nicht, dass sie dich in diesem Zustand sieht!"
Julia folgte dem Befehl der Amme und ging zu ihrem Bett zurück. Besser als jeder andere wusste sie, dass die Gute allen Grund hatte, Gräfin Capulet zu fürchten.
Nur eines fürchteten die Schlossbewohner mehr als das weibliche Oberhaupt des Capulet-Clans: die Überraschungsangriffe von Vampirjägern des Montague-Clans. Schon drei Mal hatten sie den Friedensvertrag gebrochen, um brutale Morde zu rächen, die noch unter der Herrschaft von Vlad, dem Pfähler, von den Capulets begangen worden waren.
Bei diesen Überfällen war Julia immer gut beschützt worden, meist von ihrem Cousin Tybalt. Aber inzwischen fragte sie sich, ob es für sie nicht besser gewesen wäre, dabei umzukommen. Von den Montagues getötet zu werden, hätte sie vor dem grausamen Schicksal bewahrt, das sie nun erwartete, doch andererseits hätte das Blutvergießen den Teufelskreis von Rache und Vergeltung nur erneut in Gang gesetzt. Die Capulets hassten die Montagues mit jeder Faser ihrer toten Herzen und hätten das Werk der Zerstörung in Transsilvanien um jeden Preis fortgesetzt. Julia konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihretwegen jemand getötet würde - egal, wer.
Sie atmete tief durch und versuchte, diese düsteren Gedanken zu verscheuchen. Während ihr die Amme ein übers andere Mal mit der weichen Bürste durchs Haar fuhr, dachte sie an glücklichere Zeiten, als sie die Bürstenstriche gezählt und ihre Amme bei der Arbeit lustige Volkslieder gesungen hatte. Seit ihr leibliches Kind vor Jahren gestorben war, hatte sie Julia praktisch als ihr eigenes betrachtet, und das Mädchen wusste, dass sie sich mit allen Fragen und Nöten an die Amme wenden konnte.
"Hast du denn gar kein Mitleid mit mir?", fragte Julia verzweifelt. "Oder wenigstens mit meiner Seele, die bald der Verdammnis anheimfällt?"
Vergebens wartete sie auf eine Antwort, während die Bürste weiter durch ihr Haar glitt. Dann hielt die Amme plötzlich inne, und Julia spürte ihre Lippen auf der Stirn.
"Doch, mein Kind", sagte die Amme zärtlich. "Wann immer du daran zweifelst, denke daran, dass ich mich seit deiner Geburt für diesen Moment wappne. Und ich versichere dir, dass es mir nicht leichtfällt."
Eine Träne rollte Julia über die Wange, und sie wischte sie schnell fort. "Danke."
Die Amme legte beide Arme um Julia und drückte sie. "Kann ich irgendetwas tun, um dich aufzuheitern?"
"Ja, lass uns tauschen - dein Leben gegen meins." Julia lächelte traurig.
Die Amme lachte verlegen. "Ich fürchte, das liegt nicht in meiner Macht."
"Ich weiß", erwiderte Julia. "Aber du kannst mir nicht verdenken, dass ich es mir wünsche."
Plötzlich wurde laut an die Kammertür geklopft, und augenblicklich nahm die Amme eine dienstbereite Haltung ein. "Ich hatte die hochwohlgeborene Gräfin frühestens in einer Stunde erwartet", sagte sie erschrocken, reichte Julia die Bürste und eilte zum Kleiderschrank.
Julia lachte sarkastisch auf. Anders als die meisten Vampire, die bis spät in den Abend hinein schliefen, war die Gräfin immer schon bei Sonnenuntergang hellwach. "Du weißt doch, wie viel Wert meine Mutter darauf legt, die Dienerschaft auf Trab zu halten."
Die Amme holte Julias Ballkleid aus dem Schrank und
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