Dein Blut auf meinen Lippen
du könntest deinem Schicksal entgehen? Du entstammst einer Dynastie von Vampiren und bist wie alle anderen Capulets. Finde dich damit ab! Alles andere macht dich nur unglücklich."
"Ach ja?" Julia war so wütend, dass sie es nicht verbergen konnte. "Glaubst du, es macht mich glücklich, wenn ich meine Menschlichkeit verliere, nur um unsterblich zu werden? Findest du es wirklich so erstrebenswert, als blutsaugendes Monster zu leben und dadurch einem frühen Tod zu entgehen?"
"Sei nicht so theatralisch, Julia! Das ist ermüdend und vollkommen unnötig. Als ich an meinem sechzehnten Geburtstag zum Vampir wurde, hatte ich keinerlei Skrupel, genauso wenig wie dein Vater und sein Vater vor ihm. Denk an die Familienehre! Dein Verhalten zeugt von großer Respektlosigkeit."
Julia legte sich aufs Bett und drehte ihrer Mutter den Rücken zu. "Eins haben wir wenigstens gemeinsam: Wir schämen uns füreinander."
Es wurde auf unheimliche Weise still in der Kammer, und Julia wurde in der Magengegend ganz mulmig. Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Aber sie wollte ihrer Mutter unbedingt klarmachen, dass der Lebensstil ihrer Familie unmoralisch war. So kurz vor dem entscheidenden Datum war ihr jedes Mittel recht, um ihre Mutter davon zu überzeugen, was für ein Verbrechen es war, sich von Menschen zu ernähren. Das Risiko, darüber in Streit zu geraten, musste sie eingehen.
"Schämen?" Die Stimme der Gräfin brachte alles, was in der Kammer aus Glas war, zum Klirren.
Julia presste die Hände an die Ohren.
"Wofür?", schrie ihre Mutter. "Dass wir in diesem prachtvollen Schloss wie die Könige leben? Dass wir die mächtigste Familie in ganz Transsilvanien sind – und das, obwohl diese Schmeißfliegen von Montagues unerbittlich hinter uns her sind?"
Julia glaubte, gleich explodieren zu müssen. Sie versuchte, sich zu mäßigen, indem sie sich vorstellte, die Amme redete beruhigend auf sie ein.
"Ich will nicht undankbar sein, Mutter, nur ehrlich." Sie atmete tief durch, ehe sie sich zur Gräfin umdrehte und fortfuhr: "Nicht wenige sehen die Montagues als eine Art Wachtruppe und fühlen sich von ihnen beschützt."
"Und du? Siehst du das etwa auch so?"
Der Blick der Gräfin durchbohrte Julia und raubte ihr fast den Atem. Sie konnte nicht gleich antworten, doch dann erwiderte sie: "Ich verstehe nicht, wie du damit leben kannst, dass Tausende für uns sterben."
Die Gräfin reckte das Kinn in die Höhe und strich sich eine graue Strähne aus der Stirn. "Das ist ganz einfach, mein Kind, wenn man beim Töten lediglich die Befehle des Landesherrn befolgt. Zugegeben: Dieser vermaledeite Friedensvertrag macht es uns nun schwer, an frisches Menschenblut zu kommen. Das macht uns verletzbar. Deshalb sind moralische Skrupel das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können."
"Ich verstehe dich ja, Mutter, und ich will dich nicht enttäuschen. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich das Verwandlungsritual durchstehen werde."
Die Gräfin schwebte um Julias Bett herum und nahm im Sessel daneben Platz, damit sie Julia in die Augen sehen konnte.
"Mach dir nichts vor, Kind! Selbst im Tod bist du noch eine Capulet." Die Gräfin streckte die Hand aus, und plötzlich materialisierte sich in der Luft darüber ein zusammengefalteter Brief. "Bevor du also beschließt, heldenhaft zu verhungern, solltest du dieses Angebot zur Kenntnis nehmen."
Julia setzte sich langsam auf und griff nach dem Brief, den ihre Mutter zu ihr herüberfliegen ließ. Sie riss das Siegel auf, faltete ihn auseinander und begann das zerknitterte Pergament zu lesen, während die Gräfin geräuschlos aus der Kammer schwebte.
Liebe Julia,
von Ihrem Vater und Ihrer Mutter, dem Grafen und der Gräfin Capulet, habe ich erfahren, dass auch Sie in Kürze ein vollwertiges Mitglied der Vampir-Gemeinschaft werden. Dazu möchte ich Ihnen von Herzen gratulieren. Sie werden die besonderen Kräfte entwickeln, die unseren Stand auszeichnen, und sie werden Ihnen gute Dienste leisten und Vergnügen bereiten. Noch mögen Sie daran zweifeln, ob Sie in der Lage sind, das Verwandlungsritual zu vollziehen.
Doch schlussendlich werden Sie begreifen, dass Unsterblichkeit ein großer Gewinn ist, für den sich das Töten lohnt.
Es muss Sie befremden, einen so intimen Brief von einem Fremden zu erhalten, aber schon bald werde ich für Sie kein Fremder mehr sein, denn ich habe die Ehre, zu dem Ball der Capulets eingeladen zu sein.
Auch wenn ich mancherorts nicht sehr beliebt bin, erfreue ich
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