Dein Blut auf meinen Lippen
Tropfen seines eigenen.
Dabei geriet man in einen Rauschzustand, der so stark war wie der beim Genuss von Opium. Jahrelang hatten sich die Capulets diesem Vergnügen hemmungslos hingegeben, bis die Zahl der Vampire zu groß wurde und es nicht mehr genug Menschenblut für alle gab. Seit dem Friedensvertrag war es verboten, Menschen auf diese Weise zu Vampiren zu machen, und wer es trotzdem nicht lassen konnte, musste aufpassen, dass man ihn dabei nicht erwischte.
"Du hast dich da unten auf dem Ball noch nicht blicken lassen", sagte der Graf. "Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?"
"Ach, nicht so wichtig." Julia wusste, dass es keine gute Idee wäre, sich ihrem Vater anzuvertrauen, denn er konnte noch strenger und unbeherrschter sein als ihre Mutter.
"Deine Mutter sagt, du hast Probleme mit deiner Verwandlung und würdest lieber darauf verzichten und sterben, statt deiner Bestimmung zu folgen." Der Graf ging ein paar Schritte zur Seite und ließ seinen Umhang flattern. Dann trat er ans Treppengeländer und schaute auf den Ballsaal hinab wie ein König, der die Huldigungen seines Volkes entgegennahm. "Ich habe nichts darauf gegeben. Schließlich bist du eine Frau, und Frauen neigen nun einmal zur Hysterie."
Julia merkte, dass ihr Hals ganz heiß wurde, und sie hatte das Gefühl, als ob sich dort ein kratzender Ausschlag ausbreitete. Glücklicherweise war aber nichts zu sehen - allein schon wegen des hohen Kragens ihrer smaragdgrünen Robe, die Julias Amme für diesen Abend ausgesucht hatte.
"Von Hysterie sprechen Männer doch bloß, wenn ihre Frauen und Töchter ihnen nicht mehr gehorchen", entgegnete Julia gereizt. "Aber wenn du es genau wissen willst: Ich halte mich für die Einzige in der Familie, die noch weiß, was richtig und falsch ist."
"Loyalität ist das oberste Gebot, mein Fräulein. Für jemand mit deinem hohen moralischen Anspruch müsste das eigentlich klar sein." Der Graf sah Julia nicht an, sondern blickte auf das fröhliche Treiben im Saal. Was Julia gesagt hatte und was sie bekümmerte, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren.
Julia merkte, wie wütend sie wurde, und sie konnte es kaum verbergen.
"Loyalität? Meintest du nicht vielmehr Pflicht?" Julias Ton wurde immer gereizter. "Loyalität lässt einem immerhin die Wahl, bis zu welchem Punkt man jemandem treu bleibt. Indem du beispielsweise Radu zu uns eingeladen hast, gibst du deine jahrelange Loyalität mit Vladimir auf. Oder sehe ich das etwa falsch?"
Julia war sich sicher, dass sie damit am Ego ihres Vaters gekratzt hatte. Doch ehe er etwas sagen konnte, läutete die Glocke im Nordturm fünf Mal - das Zeichen, dass Fürst Radus Kutsche das Hauptportal des Schlosses passiert hatte.
Graf Capulet entblößte die Fangzähne, und Julia wich mit zitternden Knien zurück. Sie hatte diese Drohgebärde ihres Vaters zwar schon oft gesehen, aber sie machte Julia jedes Mal aufs Neue Angst.
Mit einem Satz sprang der Graf auf seine Tochter zu und packte sie so fest, dass sich seine Fingernägel in ihre Arme gruben. "Jetzt habe ich aber endgültig genug von deinem Eigensinn! Das muss ein Ende haben, und zwar sofort. Haben wir uns verstanden, Fräulein?"
Julias Atem ging stoßweise. Die roten Augen ihres Vaters glühten, und er war so außer sich, dass sie jetzt erst begriff, wie sehr sie ihn verärgert hatte. Sie wagte nichts zu sagen und nickte nur.
"Du wirst mir und deiner Mutter helfen, den Fürsten davon zu überzeugen, dass wir uns dieses Schloss und all unseren Reichtum redlich verdient haben und dass es unser gutes Recht ist, unser Überleben zu sichern. Andernfalls erwartet dich eine Strafe, gegen die der Tod durch Verhungern geradezu eine Gnade wäre."
Julia konnte seinem wütenden Blick nicht mehr standhalten, senkte den Kopf und sagte leise: "Ja, Vater."
Im Ballsaal brandete Applaus auf, und eine durchdringende Stimme rief: "Fürst Radu, Herrscher der Walachei, und sein Stabsoffizier Felix."
Graf Capulet ließ Julia los, die sich daraufhin ein paar Schritte von ihm entfernte, und atmete tief durch. Er legte eine Hand auf die Brust, ließ die Schultern sinken, und seine eben noch so erregte Miene nahm einen heiteren Ausdruck an. Anschließend streckte er die andere Hand in Julias Richtung aus und setzte ein Lächeln auf, das seine Fangzähne verbarg. Trotzdem wagte seine Tochter nicht, an seine Seite zu treten.
"Komm, Julia", sagte er bestimmt. "Es ist Zeit, für unser Überleben zu kämpfen. Du weißt, was
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