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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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es einfach nicht los. Es ist ganz und gar abscheulich.»
    Also das haute mich um. Doch nicht der fette, gefühllose Algie, der beim ersten Anblick der Polarlichter «Someone To Watch Over Me» vor sich hin gepfiffen hatte.
    Ein eilig hingekritzelter Eintrag vom 14. Oktober. Heute Morgen hat Algie mir erzählt, dass er angefangen hat, Dinge zu hören. «Ein Albtraum im Wachzustand», sagt er dazu. Ich bedrängte ihn, Näheres zu sagen, und wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich weigere mich, diese Dinge niederzuschreiben. Sie sind zu entsetzlich. Und was mich am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass sie meinem Erlebnis im Kanu so sehr ähneln. Armer Algie; er hat vor Schiss die Hosen voll. Und er schämt sich so sehr. Ich musste ihm schwören, Jack nichts davon zu erzählen. Ich glaube nicht, dass ich es könnte, selbst wenn ich wollte. Außerdem möchte ich nicht, dass Jack von mir denkt, ich hätte auch die Hosen voll.
    Ich überflog die übrigen Seiten, doch da war nichts mehr, bis kurz vor dem Zeitpunkt, als Gus krank wurde. Mir wird langsam klar , schrieb er am 18., dass ständige Dunkelheit in einem Maße Einfluss auf den Verstand nehmen kann, wie ich es niemals erwartet hätte. Dieses Land hat eine leblose Stille an sich, die einen in schockierender Weise ins Mark trifft. Womöglich stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch oder dieser Krankheit, welche die alten Pelztierjäger zu bekommen pflegten. Wie hat Jack gleich wieder dazu gesagt ? Rar? Das Bemerkenswerte an dem Erlebnis im Kanu ist, wie ungeheuer wirklich es sich angefühlt hat .
    Doch das war es natürlich nicht. Es liegt zweifelsohne in der Natur von Halluzinationen, dass sie einem wirklich erscheinen. Träume fühlen sich schließlich auch wirklich an, obgleich sie nichts weiter als Ausgeburten des Verstandes sind; und wenn mein Gehirn imstande ist, eine solche «Pseudorealität» zu erschaffen, während ich schlafe, dann vermag es doch sicher dasselbe zu tun, wenn ich wach bin? Und doch – zu behaupten, all dies sei eine Halluzination – wie kann das tröstlich sein? Zu wissen, dass mein eigener Verstand in der Lage ist, derartige Schrecken zu erschaffen?
    Dies war einer der letzten Einträge. Am nächsten Tag wurde er krank.
    Ich saß wie gelähmt da und starrte auf seine Handschrift. Oh, Gus! Das alles hast du durchgemacht, und ich wusste nichts davon. Um deinetwillen bin ich froh, dass du auf der Krankenstation in Longyearbyen in Sicherheit bist; aber wenn ich es nur gewusst hätte! Wir hätten darüber sprechen können. Wir hätten es gemeinsam ertragen, uns gemeinsam einen Reim darauf machen können.
    Und dennoch, Gus, wenn du jetzt hier wärest, und ich wünschte bei Gott, du wärest hier, würde ich dir sagen, dass du dich täuschst. Was immer du erlebt hast, du hast es dir nicht eingebildet. Und es gibt schlimmere Dinge als Halluzinationen.
    Ich glaube keinen einzigen Augenblick daran, dass das, was ich am Bärenpfosten gehört habe, eine «Ausgeburt des Verstandes» war. Es besaß objektive Realität. Es war ein akustischer Abdruck, die nachklingende Spur einer Gräueltat, die einst hier in Gruhuken verübt worden war.
    Eine Gräueltat.
    Wieso habe ich das geschrieben? Wieso dieser Ausdruck für das Klirren von Metall auf Fels?
    Wegen des Grauens, das ich empfand. Ich hätte nicht derartiges Grauen empfunden, wäre dort nicht etwas Entsetzliches geschehen.
    Während ich darüber schreibe, kommt mir etwas in den Sinn, an das ich seit Jahren nicht gedacht habe. Und ich möchte auch jetzt nicht daran denken, also tue ich es nicht. Ich folge dem Beispiel von Gus. Ich weigere mich, es hinzuschreiben.
    Sein Wecker auf dem Küchenregal sagt mir, dass es zwanzig Minuten vor zwölf ist. Zeit, für die Zwölf-Uhr-Ablesung hinauszugehen. Ich muss es tun. Sonst hat es gewonnen. Nur, was hat gewonnen?
    Ruhig Blut, Jack, du läufst Gefahr, aus Schatten ein Ungeheuer zu erschaffen. Was auch immer es ist, eines darfst du nicht vergessen: Es gehört der Vergangenheit an. Irgendetwas ist einst hier geschehen. Etwas Grauenvolles. Doch was auch immer es war, es gehört der Vergangenheit an . Was auch immer du erlebt hast, war nichts als ein Echo.
    Es war einfach nur ein Echo.

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    12
    31. Oktober, später
    Ich bin zu Mittag hinausgegangen, und um fünf Uhr noch einmal. Beide Male haben die Hunde mich stürmisch begrüßt und zur Wetterhütte begleitet. Sie schienen sich vollkommen wohlzufühlen. Das war für mich ungemein

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